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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

zu entfesseln. Den Siedepunkt aber erreichte Alladjin von der Arbeitsgruppe
an 22. Juni, als er im Namen seiner Freunde erklärte, kein Minister würde
mehr im Hause zu Wort kommen, und er weise jede Verantwortung für die
Sicherheit der Person der Minister im Hause von sich, wenn uoch ein einziges-
mal ein Abgeordneter von der Polizei mißhandelt werden sollte! Namens
der Rechten protestierte hiergegen Graf Heyden sehr energisch und für sich
persönlich der Kadett Nabokow. Der Dumapräsident Mnromtzow fand keinen
Grund einzugreifen. Im Hinblick auf die Stellung der Linken zum politischen
Mord wirft dieser Vorgang ein trauriges Licht auf das sittliche Niveau, bei
dem die Duma schon nach wenig Wochen angekommen war! Allerdings haben
gewisse Regierungsvertreter durch ein ungualifizicrbnres Verhalten im Sitzungs-
saale solcher Demoralisierung Vorschub geleistet.




Oor vierzig Jahren
(!)tlo Aaemmel <Lrin"eruttge" von
2. Vom westlichen nach dein östlichen 'Kriegsschauplatz

in klarer Junitag lag über der anmutigen Landschaft, die sich
südlich von Göttingen nach der hessischen Grenze ausdehnt. An
allen Stationen standen hannöversche Soldaten, in Münden er¬
warteten dichte Menschenmassen unsern Zug, offenbar in der
Erwartung, daß er neue Nachrichten bringe. Als er in Kassel
einfuhr, stand oben an der Böschung, die deu Zugang zu dem sehr stattlichen
^ahnhofe beherrschte, ein Zug Jäger, und der ganze Bahnhof war von
Militär überfüllt in einer der preußischen gleichenden Uniform. Waren die
Preußen wirklich schon in Kassel? Aber wozu dann die Geschütze und
Munitionswagen, die aufgefahren waren, wozu die sichtliche Unruhe und Hast,
dle alles erfüllte? Dazu'die Antwort des Bahnhofsinspektors, der offenbar
'naht wußte, wo ihm der Kopf stand, auf meine Frage, wann ein Zug uach
Eisenach abgebe, erst müsse er die Militärzüge wegbringen, morgen werde wohl
wi Zug dorthin abfahren. Was war das? Der Dienstmann, der mich nach
ewem nahen Hotel begleitete, gab mir den peinlichen Aufschluß: der Kurfürst
habe das preußische Ultimatum abgelehnt und sei noch auf Wilhelmshöhe, die
Truppen seien im Rückzüge auf Hanau, die Schienen seien bei Bebra auf der
Strecke nach Eisenach aufgerissen. Also war ich abgeschnitten und hatte un¬
freiwillige Muße, das Schauspiel der Räumung Kassels zu betrachten. Un¬
unterbrochen kamen Geschütze und Wagen an, aber schlagfertig waren diese
Truppe" (etwa 4000 Mann) offenbar nicht. Die Geschütze, zum Teil gezogne,


vor vierzig Jahren

zu entfesseln. Den Siedepunkt aber erreichte Alladjin von der Arbeitsgruppe
an 22. Juni, als er im Namen seiner Freunde erklärte, kein Minister würde
mehr im Hause zu Wort kommen, und er weise jede Verantwortung für die
Sicherheit der Person der Minister im Hause von sich, wenn uoch ein einziges-
mal ein Abgeordneter von der Polizei mißhandelt werden sollte! Namens
der Rechten protestierte hiergegen Graf Heyden sehr energisch und für sich
persönlich der Kadett Nabokow. Der Dumapräsident Mnromtzow fand keinen
Grund einzugreifen. Im Hinblick auf die Stellung der Linken zum politischen
Mord wirft dieser Vorgang ein trauriges Licht auf das sittliche Niveau, bei
dem die Duma schon nach wenig Wochen angekommen war! Allerdings haben
gewisse Regierungsvertreter durch ein ungualifizicrbnres Verhalten im Sitzungs-
saale solcher Demoralisierung Vorschub geleistet.




Oor vierzig Jahren
(!)tlo Aaemmel <Lrin»eruttge» von
2. Vom westlichen nach dein östlichen 'Kriegsschauplatz

in klarer Junitag lag über der anmutigen Landschaft, die sich
südlich von Göttingen nach der hessischen Grenze ausdehnt. An
allen Stationen standen hannöversche Soldaten, in Münden er¬
warteten dichte Menschenmassen unsern Zug, offenbar in der
Erwartung, daß er neue Nachrichten bringe. Als er in Kassel
einfuhr, stand oben an der Böschung, die deu Zugang zu dem sehr stattlichen
^ahnhofe beherrschte, ein Zug Jäger, und der ganze Bahnhof war von
Militär überfüllt in einer der preußischen gleichenden Uniform. Waren die
Preußen wirklich schon in Kassel? Aber wozu dann die Geschütze und
Munitionswagen, die aufgefahren waren, wozu die sichtliche Unruhe und Hast,
dle alles erfüllte? Dazu'die Antwort des Bahnhofsinspektors, der offenbar
'naht wußte, wo ihm der Kopf stand, auf meine Frage, wann ein Zug uach
Eisenach abgebe, erst müsse er die Militärzüge wegbringen, morgen werde wohl
wi Zug dorthin abfahren. Was war das? Der Dienstmann, der mich nach
ewem nahen Hotel begleitete, gab mir den peinlichen Aufschluß: der Kurfürst
habe das preußische Ultimatum abgelehnt und sei noch auf Wilhelmshöhe, die
Truppen seien im Rückzüge auf Hanau, die Schienen seien bei Bebra auf der
Strecke nach Eisenach aufgerissen. Also war ich abgeschnitten und hatte un¬
freiwillige Muße, das Schauspiel der Räumung Kassels zu betrachten. Un¬
unterbrochen kamen Geschütze und Wagen an, aber schlagfertig waren diese
Truppe» (etwa 4000 Mann) offenbar nicht. Die Geschütze, zum Teil gezogne,


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[0359] vor vierzig Jahren zu entfesseln. Den Siedepunkt aber erreichte Alladjin von der Arbeitsgruppe an 22. Juni, als er im Namen seiner Freunde erklärte, kein Minister würde mehr im Hause zu Wort kommen, und er weise jede Verantwortung für die Sicherheit der Person der Minister im Hause von sich, wenn uoch ein einziges- mal ein Abgeordneter von der Polizei mißhandelt werden sollte! Namens der Rechten protestierte hiergegen Graf Heyden sehr energisch und für sich persönlich der Kadett Nabokow. Der Dumapräsident Mnromtzow fand keinen Grund einzugreifen. Im Hinblick auf die Stellung der Linken zum politischen Mord wirft dieser Vorgang ein trauriges Licht auf das sittliche Niveau, bei dem die Duma schon nach wenig Wochen angekommen war! Allerdings haben gewisse Regierungsvertreter durch ein ungualifizicrbnres Verhalten im Sitzungs- saale solcher Demoralisierung Vorschub geleistet. Oor vierzig Jahren (!)tlo Aaemmel <Lrin»eruttge» von 2. Vom westlichen nach dein östlichen 'Kriegsschauplatz in klarer Junitag lag über der anmutigen Landschaft, die sich südlich von Göttingen nach der hessischen Grenze ausdehnt. An allen Stationen standen hannöversche Soldaten, in Münden er¬ warteten dichte Menschenmassen unsern Zug, offenbar in der Erwartung, daß er neue Nachrichten bringe. Als er in Kassel einfuhr, stand oben an der Böschung, die deu Zugang zu dem sehr stattlichen ^ahnhofe beherrschte, ein Zug Jäger, und der ganze Bahnhof war von Militär überfüllt in einer der preußischen gleichenden Uniform. Waren die Preußen wirklich schon in Kassel? Aber wozu dann die Geschütze und Munitionswagen, die aufgefahren waren, wozu die sichtliche Unruhe und Hast, dle alles erfüllte? Dazu'die Antwort des Bahnhofsinspektors, der offenbar 'naht wußte, wo ihm der Kopf stand, auf meine Frage, wann ein Zug uach Eisenach abgebe, erst müsse er die Militärzüge wegbringen, morgen werde wohl wi Zug dorthin abfahren. Was war das? Der Dienstmann, der mich nach ewem nahen Hotel begleitete, gab mir den peinlichen Aufschluß: der Kurfürst habe das preußische Ultimatum abgelehnt und sei noch auf Wilhelmshöhe, die Truppen seien im Rückzüge auf Hanau, die Schienen seien bei Bebra auf der Strecke nach Eisenach aufgerissen. Also war ich abgeschnitten und hatte un¬ freiwillige Muße, das Schauspiel der Räumung Kassels zu betrachten. Un¬ unterbrochen kamen Geschütze und Wagen an, aber schlagfertig waren diese Truppe» (etwa 4000 Mann) offenbar nicht. Die Geschütze, zum Teil gezogne,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/359>, abgerufen am 29.04.2024.