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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

waren mit requirierten Pferden bespannt, die schwerfälligen Munitions- und
Ambnlanzwagen schienen noch aus der Napoleonischen Zeit zu stammen. In
Verzweiflung lief ein unglücklicher Viehhändler, der einen Transport von
einigen hundert schönen weißen großhörnigen ungarischen Ochsen nach Bremen
bringen sollte, klagend und fluchend von Pontius zu Pilatus, denn man hatte
ihm seine Wagen einfach weggenommen und gab ihm keine andern, und doch
verloren nach seiner Versicherung, kaum verpflegt und im Regen unter freiem
Himmel lagernd, die armen Tiere täglich etwa dreißig Pfund an Gewicht. Das
war der Krieg! Am Tage darauf, dem Sonntag, wurde unter dem unaufhörlich
strömenden Regen die Räumung Kassels fortgesetzt. Auf und vor dem Bahn¬
hof sahen dichte Gruppen kopfschüttelnd und räsonierend dem Rückzüge ihrer
Truppen zu. Keine Stimme, die irgendwelche Sympathie für den längst
unpopulären, tyrannischen Kurfürsten geäußert hätte, im Gegenteil, man
wünschte die Preußen herbei, die man im Anmarsch wußte, und der Landtag
hatte die Kosten für die angeordnete Mobilisierung der Truppen rundweg
abgelehnt.

Mich drängten allerdings nähere Sorgen als die um die Zukunft Kur¬
hesseus. Da die Verbindung mit Eisenach unterbrochen war, so blieb mir nichts
andres übrig, als wieder rückwärts über Göttingen die Fahrt nach Magdeburg
zu versuchen, freilich auf die Gefahr hin, auch hier zwischen aufgerissene
Schienenstränge zu geraten. Wirklich erklärte der Bahnhofsinspektor, um
Mittag solle ein Zug dahin abgehen, wenn nicht Gegenbefehl komme. In
peinlicher Erwartung bestiegen zahlreiche Reisende den bereitstehenden Zug. Da
lief ein andrer von Norden ein, die Verbindung war also noch offen, aber
als die Passagiere ausstiegen, da schien es, als ob sich eine dumpfe Betäubung
im Publikum verbreite, und ans meine Frage an den Schaffner, ob neue
Nachrichten eingetroffen seien, antwortete der Mann kurz: "Die Preußen sind
in Hannover." Das war nur um wenig Stunden verfrüht -- Vogel von
Falckensteiu rückte erst um sechs Uhr ein --, aber es machte einen tiefen und
erschütternden Eindruck. Dort war also schon alles vorüber. Dazu erzählte
ein Reisender, der am vorigen Tage von Frankfurt gekommen war, er habe
schon in Gießen um den Bahnhof preußische Bataillone lagern sehen, und die
Straße von dort nach Marburg sei mit marschierenden Kolonnen bedeckt ge¬
wesen. Es war die Division Beyer, die zwei Tage später, am 19. Juni, in
Kassel einzog. Um die ungerüstete hannoversche Armee bei Göttingen zog
sich die Schlinge also schon zusammen. Offenbar stand sie noch immer un¬
beweglich. Auf allen Stationen sah man Truppen, in Göttingen, wo wir
einen langen Aufenthalt hatten, war eben ein endloser Zug mit Geschützen und
Wagen angekommen, Massen von Tramwagen waren aufgefahren, und mau
erzählte, auch die Kavallerie, schöne, vorzüglich berittne Regimenter, sei ein¬
getroffen, bei Bovenden nördlich von der Stadt sei eine Batterie aufgefahren,
es werde hier wohl zum Kampfe kommen. Deshalb war die Zahl der in


vor vierzig Jahren

waren mit requirierten Pferden bespannt, die schwerfälligen Munitions- und
Ambnlanzwagen schienen noch aus der Napoleonischen Zeit zu stammen. In
Verzweiflung lief ein unglücklicher Viehhändler, der einen Transport von
einigen hundert schönen weißen großhörnigen ungarischen Ochsen nach Bremen
bringen sollte, klagend und fluchend von Pontius zu Pilatus, denn man hatte
ihm seine Wagen einfach weggenommen und gab ihm keine andern, und doch
verloren nach seiner Versicherung, kaum verpflegt und im Regen unter freiem
Himmel lagernd, die armen Tiere täglich etwa dreißig Pfund an Gewicht. Das
war der Krieg! Am Tage darauf, dem Sonntag, wurde unter dem unaufhörlich
strömenden Regen die Räumung Kassels fortgesetzt. Auf und vor dem Bahn¬
hof sahen dichte Gruppen kopfschüttelnd und räsonierend dem Rückzüge ihrer
Truppen zu. Keine Stimme, die irgendwelche Sympathie für den längst
unpopulären, tyrannischen Kurfürsten geäußert hätte, im Gegenteil, man
wünschte die Preußen herbei, die man im Anmarsch wußte, und der Landtag
hatte die Kosten für die angeordnete Mobilisierung der Truppen rundweg
abgelehnt.

Mich drängten allerdings nähere Sorgen als die um die Zukunft Kur¬
hesseus. Da die Verbindung mit Eisenach unterbrochen war, so blieb mir nichts
andres übrig, als wieder rückwärts über Göttingen die Fahrt nach Magdeburg
zu versuchen, freilich auf die Gefahr hin, auch hier zwischen aufgerissene
Schienenstränge zu geraten. Wirklich erklärte der Bahnhofsinspektor, um
Mittag solle ein Zug dahin abgehen, wenn nicht Gegenbefehl komme. In
peinlicher Erwartung bestiegen zahlreiche Reisende den bereitstehenden Zug. Da
lief ein andrer von Norden ein, die Verbindung war also noch offen, aber
als die Passagiere ausstiegen, da schien es, als ob sich eine dumpfe Betäubung
im Publikum verbreite, und ans meine Frage an den Schaffner, ob neue
Nachrichten eingetroffen seien, antwortete der Mann kurz: „Die Preußen sind
in Hannover." Das war nur um wenig Stunden verfrüht — Vogel von
Falckensteiu rückte erst um sechs Uhr ein —, aber es machte einen tiefen und
erschütternden Eindruck. Dort war also schon alles vorüber. Dazu erzählte
ein Reisender, der am vorigen Tage von Frankfurt gekommen war, er habe
schon in Gießen um den Bahnhof preußische Bataillone lagern sehen, und die
Straße von dort nach Marburg sei mit marschierenden Kolonnen bedeckt ge¬
wesen. Es war die Division Beyer, die zwei Tage später, am 19. Juni, in
Kassel einzog. Um die ungerüstete hannoversche Armee bei Göttingen zog
sich die Schlinge also schon zusammen. Offenbar stand sie noch immer un¬
beweglich. Auf allen Stationen sah man Truppen, in Göttingen, wo wir
einen langen Aufenthalt hatten, war eben ein endloser Zug mit Geschützen und
Wagen angekommen, Massen von Tramwagen waren aufgefahren, und mau
erzählte, auch die Kavallerie, schöne, vorzüglich berittne Regimenter, sei ein¬
getroffen, bei Bovenden nördlich von der Stadt sei eine Batterie aufgefahren,
es werde hier wohl zum Kampfe kommen. Deshalb war die Zahl der in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/360>, abgerufen am 15.05.2024.