Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Moritz Lazarus Lebenserinnerungen

er Name Moritz Lcizarus klang mir zuerst im Sommer 1874 ins
Ohr, als ich mit einigen Hunderten von Genossen bei Georg Curtius
in Leipzig dessen überaus anregende Vorlesung: "Einführung in
die vergleichende Sprachwissenschaft" hörte. Da wurde Lazarus
öfters genannt als der Begründer der Völkerpsychologie und als
Herausgeber einer besondern Zeitschrift für diesen Zweig der Philosophie. Der
begriff der Völkerpsychologie, vorbereitet durch die Ideen Herders und durch
Arbeiten der ersten Sprachenvergleicher Bopp, Wilhelm von Humboldt, des
Philosophen Herbart und andrer, ist 1851 zuerst von Lazarus formuliert
worden. Wenn die frühere Psychologie die Gesetze des Denkens und das
Seelenleben des Individuums beobachtet und feststellt, so ist Objekt der
bblkerpsychologischen Beobachtung das Geistes- und Seelenleben eines ganzen
Volkes und schließlich aller Völker. Sprache, Mythus, Religion, Sitte er¬
scheinen dabei als Elemente des Volksgeistes, letztes Ziel der neuen Wissenschaft
^ die Einsicht in das Wesen der Völkerindividuen und in den Aufbau der
Anschlichen Kultur. Die Völkerpsychologie hat auf die verschiedensten Gebiete
^ Wissenschaft und der Literatur befruchtend gewirkt, namentlich auf die ver¬
gleichende Spmchwisseuschaft, die Psychologie, die Geschichte und die Weiter-
Udung des Rechts, die allgemeine Kulturgeschichte, ja sogar auf die Ent¬
wicklung der Novelle und des Romans. Lazarus Schriften insbesondre
Zeichneten sich bei aller Schärfe der Beobachtung und bei tiefer Gründlichkeit
durch eine "sokmtische" Schlichtheit und leichte Verständlichkeit aus und haben
eshalb auf breitere Kreise gewirkt, als man nach ihren Titeln und Stoffen
Kunden sollte. Trotzdem gehören die vergleichende Sprachwissenschaft wie die
^vlkerpsychologie, obwohl zum Beispiel Wilhelm Wundt eben jetzt die reife
^rast seines Alters daransetzt, noch eine "Völkerpsychologie" zu schaffen, heute
"'ehe mehr zu den besonders blühenden Zweigen der Wissenschaft. Beide haben
wesentlichen ihre Arbeit getan. An den Universitäten ist mehr und mehr
^ Stelle des Nachsinnens über die Sprache das Studium und die genaue Er-
hebung der Sprachen getreten, und die rapiden Veränderungen im Leben der
Modernen Völker, die den Bestand des Volkstümlichen überhaupt bedrohten,
'eßen es zunächst wichtiger erscheinen, allerorten sorgfältig die Reste volkstnm-
'chen Lebens zu sammeln und zu registrieren, anstatt darüber zu philosophieren,
lud so trat an Stelle der Völkerpsychologie mehr und mehr die Völkerkunde




Moritz Lazarus Lebenserinnerungen

er Name Moritz Lcizarus klang mir zuerst im Sommer 1874 ins
Ohr, als ich mit einigen Hunderten von Genossen bei Georg Curtius
in Leipzig dessen überaus anregende Vorlesung: „Einführung in
die vergleichende Sprachwissenschaft" hörte. Da wurde Lazarus
öfters genannt als der Begründer der Völkerpsychologie und als
Herausgeber einer besondern Zeitschrift für diesen Zweig der Philosophie. Der
begriff der Völkerpsychologie, vorbereitet durch die Ideen Herders und durch
Arbeiten der ersten Sprachenvergleicher Bopp, Wilhelm von Humboldt, des
Philosophen Herbart und andrer, ist 1851 zuerst von Lazarus formuliert
worden. Wenn die frühere Psychologie die Gesetze des Denkens und das
Seelenleben des Individuums beobachtet und feststellt, so ist Objekt der
bblkerpsychologischen Beobachtung das Geistes- und Seelenleben eines ganzen
Volkes und schließlich aller Völker. Sprache, Mythus, Religion, Sitte er¬
scheinen dabei als Elemente des Volksgeistes, letztes Ziel der neuen Wissenschaft
^ die Einsicht in das Wesen der Völkerindividuen und in den Aufbau der
Anschlichen Kultur. Die Völkerpsychologie hat auf die verschiedensten Gebiete
^ Wissenschaft und der Literatur befruchtend gewirkt, namentlich auf die ver¬
gleichende Spmchwisseuschaft, die Psychologie, die Geschichte und die Weiter-
Udung des Rechts, die allgemeine Kulturgeschichte, ja sogar auf die Ent¬
wicklung der Novelle und des Romans. Lazarus Schriften insbesondre
Zeichneten sich bei aller Schärfe der Beobachtung und bei tiefer Gründlichkeit
durch eine „sokmtische" Schlichtheit und leichte Verständlichkeit aus und haben
eshalb auf breitere Kreise gewirkt, als man nach ihren Titeln und Stoffen
Kunden sollte. Trotzdem gehören die vergleichende Sprachwissenschaft wie die
^vlkerpsychologie, obwohl zum Beispiel Wilhelm Wundt eben jetzt die reife
^rast seines Alters daransetzt, noch eine „Völkerpsychologie" zu schaffen, heute
"'ehe mehr zu den besonders blühenden Zweigen der Wissenschaft. Beide haben
wesentlichen ihre Arbeit getan. An den Universitäten ist mehr und mehr
^ Stelle des Nachsinnens über die Sprache das Studium und die genaue Er-
hebung der Sprachen getreten, und die rapiden Veränderungen im Leben der
Modernen Völker, die den Bestand des Volkstümlichen überhaupt bedrohten,
'eßen es zunächst wichtiger erscheinen, allerorten sorgfältig die Reste volkstnm-
'chen Lebens zu sammeln und zu registrieren, anstatt darüber zu philosophieren,
lud so trat an Stelle der Völkerpsychologie mehr und mehr die Völkerkunde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300962"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341883_300500/figures/grenzboten_341883_300500_300962_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Moritz Lazarus Lebenserinnerungen</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1924" next="#ID_1925"> er Name Moritz Lcizarus klang mir zuerst im Sommer 1874 ins<lb/>
Ohr, als ich mit einigen Hunderten von Genossen bei Georg Curtius<lb/>
in Leipzig dessen überaus anregende Vorlesung: &#x201E;Einführung in<lb/>
die vergleichende Sprachwissenschaft" hörte.  Da wurde Lazarus<lb/>
öfters genannt als der Begründer der Völkerpsychologie und als<lb/>
Herausgeber einer besondern Zeitschrift für diesen Zweig der Philosophie. Der<lb/>
begriff der Völkerpsychologie, vorbereitet durch die Ideen Herders und durch<lb/>
Arbeiten der ersten Sprachenvergleicher Bopp, Wilhelm von Humboldt, des<lb/>
Philosophen Herbart und andrer, ist 1851 zuerst von Lazarus formuliert<lb/>
worden.  Wenn die frühere Psychologie die Gesetze des Denkens und das<lb/>
Seelenleben des Individuums beobachtet und feststellt, so ist Objekt der<lb/>
bblkerpsychologischen Beobachtung das Geistes- und Seelenleben eines ganzen<lb/>
Volkes und schließlich aller Völker.  Sprache, Mythus, Religion, Sitte er¬<lb/>
scheinen dabei als Elemente des Volksgeistes, letztes Ziel der neuen Wissenschaft<lb/>
^ die Einsicht in das Wesen der Völkerindividuen und in den Aufbau der<lb/>
Anschlichen Kultur.  Die Völkerpsychologie hat auf die verschiedensten Gebiete<lb/>
^ Wissenschaft und der Literatur befruchtend gewirkt, namentlich auf die ver¬<lb/>
gleichende Spmchwisseuschaft, die Psychologie, die Geschichte und die Weiter-<lb/>
Udung des Rechts, die allgemeine Kulturgeschichte, ja sogar auf die Ent¬<lb/>
wicklung der Novelle und des Romans.  Lazarus Schriften insbesondre<lb/>
Zeichneten sich bei aller Schärfe der Beobachtung und bei tiefer Gründlichkeit<lb/>
durch eine &#x201E;sokmtische" Schlichtheit und leichte Verständlichkeit aus und haben<lb/>
eshalb auf breitere Kreise gewirkt, als man nach ihren Titeln und Stoffen<lb/>
Kunden sollte.  Trotzdem gehören die vergleichende Sprachwissenschaft wie die<lb/>
^vlkerpsychologie, obwohl zum Beispiel Wilhelm Wundt eben jetzt die reife<lb/>
^rast seines Alters daransetzt, noch eine &#x201E;Völkerpsychologie" zu schaffen, heute<lb/>
"'ehe mehr zu den besonders blühenden Zweigen der Wissenschaft. Beide haben<lb/>
wesentlichen ihre Arbeit getan. An den Universitäten ist mehr und mehr<lb/>
^ Stelle des Nachsinnens über die Sprache das Studium und die genaue Er-<lb/>
hebung der Sprachen getreten, und die rapiden Veränderungen im Leben der<lb/>
Modernen Völker, die den Bestand des Volkstümlichen überhaupt bedrohten,<lb/>
'eßen es zunächst wichtiger erscheinen, allerorten sorgfältig die Reste volkstnm-<lb/>
'chen Lebens zu sammeln und zu registrieren, anstatt darüber zu philosophieren,<lb/>
lud so trat an Stelle der Völkerpsychologie mehr und mehr die Völkerkunde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0463] [Abbildung] Moritz Lazarus Lebenserinnerungen er Name Moritz Lcizarus klang mir zuerst im Sommer 1874 ins Ohr, als ich mit einigen Hunderten von Genossen bei Georg Curtius in Leipzig dessen überaus anregende Vorlesung: „Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft" hörte. Da wurde Lazarus öfters genannt als der Begründer der Völkerpsychologie und als Herausgeber einer besondern Zeitschrift für diesen Zweig der Philosophie. Der begriff der Völkerpsychologie, vorbereitet durch die Ideen Herders und durch Arbeiten der ersten Sprachenvergleicher Bopp, Wilhelm von Humboldt, des Philosophen Herbart und andrer, ist 1851 zuerst von Lazarus formuliert worden. Wenn die frühere Psychologie die Gesetze des Denkens und das Seelenleben des Individuums beobachtet und feststellt, so ist Objekt der bblkerpsychologischen Beobachtung das Geistes- und Seelenleben eines ganzen Volkes und schließlich aller Völker. Sprache, Mythus, Religion, Sitte er¬ scheinen dabei als Elemente des Volksgeistes, letztes Ziel der neuen Wissenschaft ^ die Einsicht in das Wesen der Völkerindividuen und in den Aufbau der Anschlichen Kultur. Die Völkerpsychologie hat auf die verschiedensten Gebiete ^ Wissenschaft und der Literatur befruchtend gewirkt, namentlich auf die ver¬ gleichende Spmchwisseuschaft, die Psychologie, die Geschichte und die Weiter- Udung des Rechts, die allgemeine Kulturgeschichte, ja sogar auf die Ent¬ wicklung der Novelle und des Romans. Lazarus Schriften insbesondre Zeichneten sich bei aller Schärfe der Beobachtung und bei tiefer Gründlichkeit durch eine „sokmtische" Schlichtheit und leichte Verständlichkeit aus und haben eshalb auf breitere Kreise gewirkt, als man nach ihren Titeln und Stoffen Kunden sollte. Trotzdem gehören die vergleichende Sprachwissenschaft wie die ^vlkerpsychologie, obwohl zum Beispiel Wilhelm Wundt eben jetzt die reife ^rast seines Alters daransetzt, noch eine „Völkerpsychologie" zu schaffen, heute "'ehe mehr zu den besonders blühenden Zweigen der Wissenschaft. Beide haben wesentlichen ihre Arbeit getan. An den Universitäten ist mehr und mehr ^ Stelle des Nachsinnens über die Sprache das Studium und die genaue Er- hebung der Sprachen getreten, und die rapiden Veränderungen im Leben der Modernen Völker, die den Bestand des Volkstümlichen überhaupt bedrohten, 'eßen es zunächst wichtiger erscheinen, allerorten sorgfältig die Reste volkstnm- 'chen Lebens zu sammeln und zu registrieren, anstatt darüber zu philosophieren, lud so trat an Stelle der Völkerpsychologie mehr und mehr die Völkerkunde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/463
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/463>, abgerufen am 29.04.2024.