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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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und die Volkskunde, die sich bei uns zum Beispiel in ebensoviele Zweige teilt,
als das deutsche Volk Stämme hat. Die besten ältern Arbeiten aus dem Ge-
biete der Völkerpsychologie liegen in den zwanzig Bänden der von Lazarus mit
seinem Schwager Steinthal von 1859 bis 1890 herausgegebnen "Zeitschrift für
Völkerpsychologie" vor, deren ungeheure Stoffmassen durch ein von Alfred Leicht
gefertigtes, das Schlußheft füllendes Register erst recht der Benutzung zugänglich
geworden sind. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, daß die neue Folge dieser
Zeitschrift seitdem als "Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" erscheint.

Moritz Lazarus wurde am 15. September 1824 in dem an der Grenze von
Brandenburg und Westpreußen liegenden Städtchen Filehue als Sohn eines
armen jüdischen Volksanwalts geboren. Da die Bevölkerung des Städtchens
fast zu gleichen Teilen aus Protestanten, Katholiken und Juden gemischt war,
bot sich ihm früh Gelegenheit zur Beobachtung der diese Religions- und Be-
völkerungsgruppen trennenden und einenden Züge. Vom Vater für den Handels¬
stand bestimmt, war er vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre Lehrling, dann
Kommis in einem Posener Geschäfte; doch konnte er sich von der intimen Be¬
schäftigung mit den von ihm liebevoll ergriffnen Wissenschaften nicht trennen.
Deshalb absolvierte er nach zweijähriger Vorbereitung von 1344 bis 1846 die
vier obersten Klassen des Braunschweiger Gymnasiums, studierte in Berlin ins¬
besondre Philosophie und promovierte 1849 in Halle mit einer Abhandlung
"Über ästhetische Erziehung des Kindes". Seine Meister waren insbesondre
Hegel und Herbart gewesen, obwohl er den letztern nie persönlich gesehen hat.
Die erste von ihm im Druck erschienene Schrift aus dem Jahre 1850: "Über
die sittliche Berechtigung Preußens in Deutschland" zeigt ihn als einen jener
Einsichtsvollen, die die politische Mission Preußens, die Einigung der deutschen
Stämme herbeizuführen, klar erkannt hatten. Im Jahre 1860 wurde Lazarus als
Professor der Psychologie an die Universität Bern berufen, wo er 1863 auch
das Amt des Rektors führte. Doch kehrte er 1866 nach Berlin zurück, war
von 1868 bis 1872 Professor der Philosophie an der Kriegsakademie und über¬
nahm im Oktober 1873 eine ordentliche Honorarprofessur an der Berliner
Universität, die er -- mit einer längern Unterbrechung - bis Ostern 1896
ausübte. Dann siedelte er nach dem südtirolischen Meran über, dessen mildes
Klima seiner Gesundheit besonders zusagte, und starb dort in seiner "Villa
Ruth" am 13. April 1903, fast 80 Jahre alt.

Zwei wissenschaftliche Hauptwerke hat Lazarus der Welt hinterlassen: sei"
"Leben der Seele" und seine "Ethik des Judentums". Aber seine Wichtigkeit
für das Geistesleben der zweiten Hülste des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht
in dem verhältnismüßig engen Kreis dieser Themata oder überhaupt in seiner
schriftstellerischen Tätigkeit beschlossen. Noch viel mehr hat Lazarus als Per¬
sönlichkeit, als Mensch gewirkt: er war als einer der Begründer der Schiller¬
stiftung und langjähriger Leiter des Berliner Zweigvereins, ferner als einflu߬
reiches Mitglied der ^Mano" i"i'i,6M" nniverKollv ein uneigennütziger Förderer


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und die Volkskunde, die sich bei uns zum Beispiel in ebensoviele Zweige teilt,
als das deutsche Volk Stämme hat. Die besten ältern Arbeiten aus dem Ge-
biete der Völkerpsychologie liegen in den zwanzig Bänden der von Lazarus mit
seinem Schwager Steinthal von 1859 bis 1890 herausgegebnen „Zeitschrift für
Völkerpsychologie" vor, deren ungeheure Stoffmassen durch ein von Alfred Leicht
gefertigtes, das Schlußheft füllendes Register erst recht der Benutzung zugänglich
geworden sind. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, daß die neue Folge dieser
Zeitschrift seitdem als „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" erscheint.

Moritz Lazarus wurde am 15. September 1824 in dem an der Grenze von
Brandenburg und Westpreußen liegenden Städtchen Filehue als Sohn eines
armen jüdischen Volksanwalts geboren. Da die Bevölkerung des Städtchens
fast zu gleichen Teilen aus Protestanten, Katholiken und Juden gemischt war,
bot sich ihm früh Gelegenheit zur Beobachtung der diese Religions- und Be-
völkerungsgruppen trennenden und einenden Züge. Vom Vater für den Handels¬
stand bestimmt, war er vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre Lehrling, dann
Kommis in einem Posener Geschäfte; doch konnte er sich von der intimen Be¬
schäftigung mit den von ihm liebevoll ergriffnen Wissenschaften nicht trennen.
Deshalb absolvierte er nach zweijähriger Vorbereitung von 1344 bis 1846 die
vier obersten Klassen des Braunschweiger Gymnasiums, studierte in Berlin ins¬
besondre Philosophie und promovierte 1849 in Halle mit einer Abhandlung
„Über ästhetische Erziehung des Kindes". Seine Meister waren insbesondre
Hegel und Herbart gewesen, obwohl er den letztern nie persönlich gesehen hat.
Die erste von ihm im Druck erschienene Schrift aus dem Jahre 1850: „Über
die sittliche Berechtigung Preußens in Deutschland" zeigt ihn als einen jener
Einsichtsvollen, die die politische Mission Preußens, die Einigung der deutschen
Stämme herbeizuführen, klar erkannt hatten. Im Jahre 1860 wurde Lazarus als
Professor der Psychologie an die Universität Bern berufen, wo er 1863 auch
das Amt des Rektors führte. Doch kehrte er 1866 nach Berlin zurück, war
von 1868 bis 1872 Professor der Philosophie an der Kriegsakademie und über¬
nahm im Oktober 1873 eine ordentliche Honorarprofessur an der Berliner
Universität, die er — mit einer längern Unterbrechung - bis Ostern 1896
ausübte. Dann siedelte er nach dem südtirolischen Meran über, dessen mildes
Klima seiner Gesundheit besonders zusagte, und starb dort in seiner „Villa
Ruth" am 13. April 1903, fast 80 Jahre alt.

Zwei wissenschaftliche Hauptwerke hat Lazarus der Welt hinterlassen: sei»
„Leben der Seele" und seine „Ethik des Judentums". Aber seine Wichtigkeit
für das Geistesleben der zweiten Hülste des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht
in dem verhältnismüßig engen Kreis dieser Themata oder überhaupt in seiner
schriftstellerischen Tätigkeit beschlossen. Noch viel mehr hat Lazarus als Per¬
sönlichkeit, als Mensch gewirkt: er war als einer der Begründer der Schiller¬
stiftung und langjähriger Leiter des Berliner Zweigvereins, ferner als einflu߬
reiches Mitglied der ^Mano« i«i'i,6M« nniverKollv ein uneigennütziger Förderer


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[0464] Moritz Lazarus Lel>eilseriii!ieruna,c>i und die Volkskunde, die sich bei uns zum Beispiel in ebensoviele Zweige teilt, als das deutsche Volk Stämme hat. Die besten ältern Arbeiten aus dem Ge- biete der Völkerpsychologie liegen in den zwanzig Bänden der von Lazarus mit seinem Schwager Steinthal von 1859 bis 1890 herausgegebnen „Zeitschrift für Völkerpsychologie" vor, deren ungeheure Stoffmassen durch ein von Alfred Leicht gefertigtes, das Schlußheft füllendes Register erst recht der Benutzung zugänglich geworden sind. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, daß die neue Folge dieser Zeitschrift seitdem als „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" erscheint. Moritz Lazarus wurde am 15. September 1824 in dem an der Grenze von Brandenburg und Westpreußen liegenden Städtchen Filehue als Sohn eines armen jüdischen Volksanwalts geboren. Da die Bevölkerung des Städtchens fast zu gleichen Teilen aus Protestanten, Katholiken und Juden gemischt war, bot sich ihm früh Gelegenheit zur Beobachtung der diese Religions- und Be- völkerungsgruppen trennenden und einenden Züge. Vom Vater für den Handels¬ stand bestimmt, war er vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre Lehrling, dann Kommis in einem Posener Geschäfte; doch konnte er sich von der intimen Be¬ schäftigung mit den von ihm liebevoll ergriffnen Wissenschaften nicht trennen. Deshalb absolvierte er nach zweijähriger Vorbereitung von 1344 bis 1846 die vier obersten Klassen des Braunschweiger Gymnasiums, studierte in Berlin ins¬ besondre Philosophie und promovierte 1849 in Halle mit einer Abhandlung „Über ästhetische Erziehung des Kindes". Seine Meister waren insbesondre Hegel und Herbart gewesen, obwohl er den letztern nie persönlich gesehen hat. Die erste von ihm im Druck erschienene Schrift aus dem Jahre 1850: „Über die sittliche Berechtigung Preußens in Deutschland" zeigt ihn als einen jener Einsichtsvollen, die die politische Mission Preußens, die Einigung der deutschen Stämme herbeizuführen, klar erkannt hatten. Im Jahre 1860 wurde Lazarus als Professor der Psychologie an die Universität Bern berufen, wo er 1863 auch das Amt des Rektors führte. Doch kehrte er 1866 nach Berlin zurück, war von 1868 bis 1872 Professor der Philosophie an der Kriegsakademie und über¬ nahm im Oktober 1873 eine ordentliche Honorarprofessur an der Berliner Universität, die er — mit einer längern Unterbrechung - bis Ostern 1896 ausübte. Dann siedelte er nach dem südtirolischen Meran über, dessen mildes Klima seiner Gesundheit besonders zusagte, und starb dort in seiner „Villa Ruth" am 13. April 1903, fast 80 Jahre alt. Zwei wissenschaftliche Hauptwerke hat Lazarus der Welt hinterlassen: sei» „Leben der Seele" und seine „Ethik des Judentums". Aber seine Wichtigkeit für das Geistesleben der zweiten Hülste des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht in dem verhältnismüßig engen Kreis dieser Themata oder überhaupt in seiner schriftstellerischen Tätigkeit beschlossen. Noch viel mehr hat Lazarus als Per¬ sönlichkeit, als Mensch gewirkt: er war als einer der Begründer der Schiller¬ stiftung und langjähriger Leiter des Berliner Zweigvereins, ferner als einflu߬ reiches Mitglied der ^Mano« i«i'i,6M« nniverKollv ein uneigennütziger Förderer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/464>, abgerufen am 15.05.2024.