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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

wenig ins Gewicht fallen. Wir beglückwünschen ihn aber namentlich zu dem
Gedanken, der ihn das schön ausgestattete, bei Poeschel und Trepte gedruckte
Buch schaffen hieß. Da es vieles bringt, wird es jedem etwas bringen,
und niemand kann diese Sammlung intimer, niemals für den Druck bestimmter
D Werner Deetjen okumente unbefriedigt aus der Hand legen.




Literarische Rundschau

>wei wackre Poeten hatten wir in den letzten Wochen als Tote
zu beklagen: den bei Berlin heimisch gewordnen Mecklenburger
Heinrich Seidel und den Österreicher I. I. David. Aus den Nekro¬
logen, die ihnen ertönen, war eine für unser literarisches Leben
! erfreuliche Tatsache zu entnehmen: man wirft nicht mehr so viel
mit Schlagwörtern um sich wie früher; man hat keinen Grund mehr, sich über
verschiedne "Richtungen" und "Bewegungen" aufzuregen, ist des langen Haders
müde und beginnt sich mit der Versenkung in den Einzelnen und seine Werke
an sich lieber zu befassen als mit dem Streit und der Abgrenzungssucht früherer
Tage. Darüber geht denn auch das Schlagwort von der Heimatkunst zu Grabe,
und ich bin dessen froh. Denn (ich habe das in diesen Blättern schon aus¬
gesprochen) kein andres hat so irreführend gewirkt, keins war so überflüssig und
hat der niemals goldnen Mittelmäßigkeit so viel Siege erfechten helfen wie dies.
Mit Recht hat sich Adolf Bartels dagegen gewehrt, daß man ihm zuschob, er
habe die Heimatkunst als die Erlösung und das Ziel der neusten deutschen Dich¬
tung erstrebt und gepriesen; er hat vielmehr immer große Kunst im Anschluß an
die Realisten der fünfziger und sechziger Jahre gewollt. Aber die unheilvolle
Macht des Schlagworts hat er in der Tat auch an sich erfahren. Gerade die
Kunst, richtig zu gruppieren -- sonst seine stärkste Seite --, versagt ihm in
diesem Umkreis, und er wird die betreffenden Seiten seiner Literaturgeschichte
einmal umarbeiten und die nach seinem eignen Zugeständnis technisch (ich
würde sagen: ästhetisch) oft weit auseinander stehenden "Heimattunftler" zum
großen Teil anders zusammenstellen und unterbringen müssen.

Warum hat dieser Ruf "Heimatkunst" so verwirrend gewirkt, viel ver¬
wirrender als der Naturalismus? Aus verschiednen Gründen. Der Natura¬
lismus -- um den Vergleich durchzuführen -- war eine klare und neue Be¬
wegung. Es hatte hie und da schon früher seit dem "Sturm und Drang"
naturalistische Ansätze in Deutschland gegeben, aber doch wohl nur einen natu¬
ralistischen Dichter von Bedeutung, nämlich Jeremias Gotthelf, und der war
(und ist) der Nation noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Sonst hatten wir
in der naturalistischen Bewegung wirklich, nach Fontanes Wort, "im eigentlichen


Literarische Rundschau

wenig ins Gewicht fallen. Wir beglückwünschen ihn aber namentlich zu dem
Gedanken, der ihn das schön ausgestattete, bei Poeschel und Trepte gedruckte
Buch schaffen hieß. Da es vieles bringt, wird es jedem etwas bringen,
und niemand kann diese Sammlung intimer, niemals für den Druck bestimmter
D Werner Deetjen okumente unbefriedigt aus der Hand legen.




Literarische Rundschau

>wei wackre Poeten hatten wir in den letzten Wochen als Tote
zu beklagen: den bei Berlin heimisch gewordnen Mecklenburger
Heinrich Seidel und den Österreicher I. I. David. Aus den Nekro¬
logen, die ihnen ertönen, war eine für unser literarisches Leben
! erfreuliche Tatsache zu entnehmen: man wirft nicht mehr so viel
mit Schlagwörtern um sich wie früher; man hat keinen Grund mehr, sich über
verschiedne „Richtungen" und „Bewegungen" aufzuregen, ist des langen Haders
müde und beginnt sich mit der Versenkung in den Einzelnen und seine Werke
an sich lieber zu befassen als mit dem Streit und der Abgrenzungssucht früherer
Tage. Darüber geht denn auch das Schlagwort von der Heimatkunst zu Grabe,
und ich bin dessen froh. Denn (ich habe das in diesen Blättern schon aus¬
gesprochen) kein andres hat so irreführend gewirkt, keins war so überflüssig und
hat der niemals goldnen Mittelmäßigkeit so viel Siege erfechten helfen wie dies.
Mit Recht hat sich Adolf Bartels dagegen gewehrt, daß man ihm zuschob, er
habe die Heimatkunst als die Erlösung und das Ziel der neusten deutschen Dich¬
tung erstrebt und gepriesen; er hat vielmehr immer große Kunst im Anschluß an
die Realisten der fünfziger und sechziger Jahre gewollt. Aber die unheilvolle
Macht des Schlagworts hat er in der Tat auch an sich erfahren. Gerade die
Kunst, richtig zu gruppieren — sonst seine stärkste Seite —, versagt ihm in
diesem Umkreis, und er wird die betreffenden Seiten seiner Literaturgeschichte
einmal umarbeiten und die nach seinem eignen Zugeständnis technisch (ich
würde sagen: ästhetisch) oft weit auseinander stehenden „Heimattunftler" zum
großen Teil anders zusammenstellen und unterbringen müssen.

Warum hat dieser Ruf „Heimatkunst" so verwirrend gewirkt, viel ver¬
wirrender als der Naturalismus? Aus verschiednen Gründen. Der Natura¬
lismus — um den Vergleich durchzuführen — war eine klare und neue Be¬
wegung. Es hatte hie und da schon früher seit dem „Sturm und Drang"
naturalistische Ansätze in Deutschland gegeben, aber doch wohl nur einen natu¬
ralistischen Dichter von Bedeutung, nämlich Jeremias Gotthelf, und der war
(und ist) der Nation noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Sonst hatten wir
in der naturalistischen Bewegung wirklich, nach Fontanes Wort, „im eigentlichen


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[0544] Literarische Rundschau wenig ins Gewicht fallen. Wir beglückwünschen ihn aber namentlich zu dem Gedanken, der ihn das schön ausgestattete, bei Poeschel und Trepte gedruckte Buch schaffen hieß. Da es vieles bringt, wird es jedem etwas bringen, und niemand kann diese Sammlung intimer, niemals für den Druck bestimmter D Werner Deetjen okumente unbefriedigt aus der Hand legen. Literarische Rundschau >wei wackre Poeten hatten wir in den letzten Wochen als Tote zu beklagen: den bei Berlin heimisch gewordnen Mecklenburger Heinrich Seidel und den Österreicher I. I. David. Aus den Nekro¬ logen, die ihnen ertönen, war eine für unser literarisches Leben ! erfreuliche Tatsache zu entnehmen: man wirft nicht mehr so viel mit Schlagwörtern um sich wie früher; man hat keinen Grund mehr, sich über verschiedne „Richtungen" und „Bewegungen" aufzuregen, ist des langen Haders müde und beginnt sich mit der Versenkung in den Einzelnen und seine Werke an sich lieber zu befassen als mit dem Streit und der Abgrenzungssucht früherer Tage. Darüber geht denn auch das Schlagwort von der Heimatkunst zu Grabe, und ich bin dessen froh. Denn (ich habe das in diesen Blättern schon aus¬ gesprochen) kein andres hat so irreführend gewirkt, keins war so überflüssig und hat der niemals goldnen Mittelmäßigkeit so viel Siege erfechten helfen wie dies. Mit Recht hat sich Adolf Bartels dagegen gewehrt, daß man ihm zuschob, er habe die Heimatkunst als die Erlösung und das Ziel der neusten deutschen Dich¬ tung erstrebt und gepriesen; er hat vielmehr immer große Kunst im Anschluß an die Realisten der fünfziger und sechziger Jahre gewollt. Aber die unheilvolle Macht des Schlagworts hat er in der Tat auch an sich erfahren. Gerade die Kunst, richtig zu gruppieren — sonst seine stärkste Seite —, versagt ihm in diesem Umkreis, und er wird die betreffenden Seiten seiner Literaturgeschichte einmal umarbeiten und die nach seinem eignen Zugeständnis technisch (ich würde sagen: ästhetisch) oft weit auseinander stehenden „Heimattunftler" zum großen Teil anders zusammenstellen und unterbringen müssen. Warum hat dieser Ruf „Heimatkunst" so verwirrend gewirkt, viel ver¬ wirrender als der Naturalismus? Aus verschiednen Gründen. Der Natura¬ lismus — um den Vergleich durchzuführen — war eine klare und neue Be¬ wegung. Es hatte hie und da schon früher seit dem „Sturm und Drang" naturalistische Ansätze in Deutschland gegeben, aber doch wohl nur einen natu¬ ralistischen Dichter von Bedeutung, nämlich Jeremias Gotthelf, und der war (und ist) der Nation noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Sonst hatten wir in der naturalistischen Bewegung wirklich, nach Fontanes Wort, „im eigentlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/544>, abgerufen am 29.04.2024.