Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Lüde des Deutschen Bundestags

herrscht noch immer eine sich über alle Rechtsgrundsätze hinwegsetzende Inter-
essenpolitik. Von vielen wird deshalb das ganze Vorgehen der stolzen Euro¬
päer gegenüber den Eingebornen der auf einer niedrigern Kulturstufe stehenden
Länder überhaupt für ein Unrecht erklärt. Um solche politische Sentimentali¬
täten aber kümmert sich die immer ruhig und unaufhaltsam fortschreitende
Kultur nicht; wer sich den allgemeinen Gesetzen der emporstrebenden Ent¬
wicklung zu widersetzen versucht, muß untergehn und verschwinden. In dieser
Lage ist Marokko, dessen unsichre, halbbarbarische Zustände durchaus eine
Änderung verlangen. Auf friedlichem Wege solche Reformen durchzuführen
wird sich aber erst als möglich erweisen, wenn die fanatisch freiheitsliebenden,
kriegerischen Marokkaner wirklich über die politische Selbständigkeit ihres Reiches
beruhigt sein können.




Das Ende des Deutschen Bundestags
Gelo Uuntzemüller vonin

>n den Geschichtswerken, die von den Ereignissen des Jahres 1866
erzählen, findet man wenig über das Ende des Deutschen Bundes¬
tags. Man liest fast nur, daß der Bundestag kurz vor dem Einrücken
der Preußen in Frankfurt am Main nach Augsburg übersiedelte
kund dort am 24. August 1866 in Anwesenheit von nur noch
sieben seiner ursprünglich 39 Mitglieder seine letzte Sitzung abhielt. Und doch
ist es nicht uninteressant, zu wissen, wie sich die letzten Tage der unglücklichen
Schöpfung des Wiener Kongresses von 1815 gestaltet haben.

Tatsächlich war der durch die Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 er¬
richtete deutsche Staatenbund schon am 14. Juni 1866 aufgelöst, nachdem
Preußen infolge der Annahme des von ihm als bundeswidrig bezeichneten
österreichischen Mobilisierungsantrags den bisherigen Bundesvertrag für ge¬
brochen und seinen Austritt aus dem Bunde erklärt hatte. Österreich hatte
zwar gegen diese Erklärung Preußens sofort Protest eingelegt mit der Be¬
gründung, daß der Deutsche Bund ein unauflöslicher Verein sei, aus dem der
Austritt keinem Mitgliede freistehe, und die übrigen Bundesstaaten waren am
16. Juni diesem Proteste beigetreten, allem die Entscheidung lag schon bei den
Waffen. Am 21. Juni erklärten Oldenburg und Lippe-Detmold ihren Aus¬
tritt aus dem Bunde. Am 25. Juni folgten Anhalt, Schwarzburg-Sonders¬
hausen und Waldeck, am 29. Juni Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe,
Hamburg, Bremen und Lübeck, am 2. Juli Sachsen-Koburg und Gotha mit
den beiden Mecklenburg, am 5. Juli Sachsen-Weimar, am 26. Juli Sachsen-
Meiningen, am 2. August Baden und am 4. August Braunschweig. Die


Das Lüde des Deutschen Bundestags

herrscht noch immer eine sich über alle Rechtsgrundsätze hinwegsetzende Inter-
essenpolitik. Von vielen wird deshalb das ganze Vorgehen der stolzen Euro¬
päer gegenüber den Eingebornen der auf einer niedrigern Kulturstufe stehenden
Länder überhaupt für ein Unrecht erklärt. Um solche politische Sentimentali¬
täten aber kümmert sich die immer ruhig und unaufhaltsam fortschreitende
Kultur nicht; wer sich den allgemeinen Gesetzen der emporstrebenden Ent¬
wicklung zu widersetzen versucht, muß untergehn und verschwinden. In dieser
Lage ist Marokko, dessen unsichre, halbbarbarische Zustände durchaus eine
Änderung verlangen. Auf friedlichem Wege solche Reformen durchzuführen
wird sich aber erst als möglich erweisen, wenn die fanatisch freiheitsliebenden,
kriegerischen Marokkaner wirklich über die politische Selbständigkeit ihres Reiches
beruhigt sein können.




Das Ende des Deutschen Bundestags
Gelo Uuntzemüller vonin

>n den Geschichtswerken, die von den Ereignissen des Jahres 1866
erzählen, findet man wenig über das Ende des Deutschen Bundes¬
tags. Man liest fast nur, daß der Bundestag kurz vor dem Einrücken
der Preußen in Frankfurt am Main nach Augsburg übersiedelte
kund dort am 24. August 1866 in Anwesenheit von nur noch
sieben seiner ursprünglich 39 Mitglieder seine letzte Sitzung abhielt. Und doch
ist es nicht uninteressant, zu wissen, wie sich die letzten Tage der unglücklichen
Schöpfung des Wiener Kongresses von 1815 gestaltet haben.

Tatsächlich war der durch die Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 er¬
richtete deutsche Staatenbund schon am 14. Juni 1866 aufgelöst, nachdem
Preußen infolge der Annahme des von ihm als bundeswidrig bezeichneten
österreichischen Mobilisierungsantrags den bisherigen Bundesvertrag für ge¬
brochen und seinen Austritt aus dem Bunde erklärt hatte. Österreich hatte
zwar gegen diese Erklärung Preußens sofort Protest eingelegt mit der Be¬
gründung, daß der Deutsche Bund ein unauflöslicher Verein sei, aus dem der
Austritt keinem Mitgliede freistehe, und die übrigen Bundesstaaten waren am
16. Juni diesem Proteste beigetreten, allem die Entscheidung lag schon bei den
Waffen. Am 21. Juni erklärten Oldenburg und Lippe-Detmold ihren Aus¬
tritt aus dem Bunde. Am 25. Juni folgten Anhalt, Schwarzburg-Sonders¬
hausen und Waldeck, am 29. Juni Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe,
Hamburg, Bremen und Lübeck, am 2. Juli Sachsen-Koburg und Gotha mit
den beiden Mecklenburg, am 5. Juli Sachsen-Weimar, am 26. Juli Sachsen-
Meiningen, am 2. August Baden und am 4. August Braunschweig. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0642" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301141"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Lüde des Deutschen Bundestags</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2619" prev="#ID_2618"> herrscht noch immer eine sich über alle Rechtsgrundsätze hinwegsetzende Inter-<lb/>
essenpolitik. Von vielen wird deshalb das ganze Vorgehen der stolzen Euro¬<lb/>
päer gegenüber den Eingebornen der auf einer niedrigern Kulturstufe stehenden<lb/>
Länder überhaupt für ein Unrecht erklärt. Um solche politische Sentimentali¬<lb/>
täten aber kümmert sich die immer ruhig und unaufhaltsam fortschreitende<lb/>
Kultur nicht; wer sich den allgemeinen Gesetzen der emporstrebenden Ent¬<lb/>
wicklung zu widersetzen versucht, muß untergehn und verschwinden. In dieser<lb/>
Lage ist Marokko, dessen unsichre, halbbarbarische Zustände durchaus eine<lb/>
Änderung verlangen. Auf friedlichem Wege solche Reformen durchzuführen<lb/>
wird sich aber erst als möglich erweisen, wenn die fanatisch freiheitsliebenden,<lb/>
kriegerischen Marokkaner wirklich über die politische Selbständigkeit ihres Reiches<lb/>
beruhigt sein können.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das Ende des Deutschen Bundestags<lb/><note type="byline"> Gelo Uuntzemüller </note> vonin </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2620"> &gt;n den Geschichtswerken, die von den Ereignissen des Jahres 1866<lb/>
erzählen, findet man wenig über das Ende des Deutschen Bundes¬<lb/>
tags. Man liest fast nur, daß der Bundestag kurz vor dem Einrücken<lb/>
der Preußen in Frankfurt am Main nach Augsburg übersiedelte<lb/>
kund dort am 24. August 1866 in Anwesenheit von nur noch<lb/>
sieben seiner ursprünglich 39 Mitglieder seine letzte Sitzung abhielt. Und doch<lb/>
ist es nicht uninteressant, zu wissen, wie sich die letzten Tage der unglücklichen<lb/>
Schöpfung des Wiener Kongresses von 1815 gestaltet haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2621" next="#ID_2622"> Tatsächlich war der durch die Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 er¬<lb/>
richtete deutsche Staatenbund schon am 14. Juni 1866 aufgelöst, nachdem<lb/>
Preußen infolge der Annahme des von ihm als bundeswidrig bezeichneten<lb/>
österreichischen Mobilisierungsantrags den bisherigen Bundesvertrag für ge¬<lb/>
brochen und seinen Austritt aus dem Bunde erklärt hatte. Österreich hatte<lb/>
zwar gegen diese Erklärung Preußens sofort Protest eingelegt mit der Be¬<lb/>
gründung, daß der Deutsche Bund ein unauflöslicher Verein sei, aus dem der<lb/>
Austritt keinem Mitgliede freistehe, und die übrigen Bundesstaaten waren am<lb/>
16. Juni diesem Proteste beigetreten, allem die Entscheidung lag schon bei den<lb/>
Waffen. Am 21. Juni erklärten Oldenburg und Lippe-Detmold ihren Aus¬<lb/>
tritt aus dem Bunde. Am 25. Juni folgten Anhalt, Schwarzburg-Sonders¬<lb/>
hausen und Waldeck, am 29. Juni Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe,<lb/>
Hamburg, Bremen und Lübeck, am 2. Juli Sachsen-Koburg und Gotha mit<lb/>
den beiden Mecklenburg, am 5. Juli Sachsen-Weimar, am 26. Juli Sachsen-<lb/>
Meiningen, am 2. August Baden und am 4. August Braunschweig. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0642] Das Lüde des Deutschen Bundestags herrscht noch immer eine sich über alle Rechtsgrundsätze hinwegsetzende Inter- essenpolitik. Von vielen wird deshalb das ganze Vorgehen der stolzen Euro¬ päer gegenüber den Eingebornen der auf einer niedrigern Kulturstufe stehenden Länder überhaupt für ein Unrecht erklärt. Um solche politische Sentimentali¬ täten aber kümmert sich die immer ruhig und unaufhaltsam fortschreitende Kultur nicht; wer sich den allgemeinen Gesetzen der emporstrebenden Ent¬ wicklung zu widersetzen versucht, muß untergehn und verschwinden. In dieser Lage ist Marokko, dessen unsichre, halbbarbarische Zustände durchaus eine Änderung verlangen. Auf friedlichem Wege solche Reformen durchzuführen wird sich aber erst als möglich erweisen, wenn die fanatisch freiheitsliebenden, kriegerischen Marokkaner wirklich über die politische Selbständigkeit ihres Reiches beruhigt sein können. Das Ende des Deutschen Bundestags Gelo Uuntzemüller vonin >n den Geschichtswerken, die von den Ereignissen des Jahres 1866 erzählen, findet man wenig über das Ende des Deutschen Bundes¬ tags. Man liest fast nur, daß der Bundestag kurz vor dem Einrücken der Preußen in Frankfurt am Main nach Augsburg übersiedelte kund dort am 24. August 1866 in Anwesenheit von nur noch sieben seiner ursprünglich 39 Mitglieder seine letzte Sitzung abhielt. Und doch ist es nicht uninteressant, zu wissen, wie sich die letzten Tage der unglücklichen Schöpfung des Wiener Kongresses von 1815 gestaltet haben. Tatsächlich war der durch die Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815 er¬ richtete deutsche Staatenbund schon am 14. Juni 1866 aufgelöst, nachdem Preußen infolge der Annahme des von ihm als bundeswidrig bezeichneten österreichischen Mobilisierungsantrags den bisherigen Bundesvertrag für ge¬ brochen und seinen Austritt aus dem Bunde erklärt hatte. Österreich hatte zwar gegen diese Erklärung Preußens sofort Protest eingelegt mit der Be¬ gründung, daß der Deutsche Bund ein unauflöslicher Verein sei, aus dem der Austritt keinem Mitgliede freistehe, und die übrigen Bundesstaaten waren am 16. Juni diesem Proteste beigetreten, allem die Entscheidung lag schon bei den Waffen. Am 21. Juni erklärten Oldenburg und Lippe-Detmold ihren Aus¬ tritt aus dem Bunde. Am 25. Juni folgten Anhalt, Schwarzburg-Sonders¬ hausen und Waldeck, am 29. Juni Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Hamburg, Bremen und Lübeck, am 2. Juli Sachsen-Koburg und Gotha mit den beiden Mecklenburg, am 5. Juli Sachsen-Weimar, am 26. Juli Sachsen- Meiningen, am 2. August Baden und am 4. August Braunschweig. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/642
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/642>, abgerufen am 29.04.2024.