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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Kulturbilder aus den Balkanstaaten

braucht! -- zu öffnen, das ist eine wichtige und dankenswerte Aufgabe. Diese
Aufklärung durch Vorträge und Schriften in populärer Form, insbesondre
auch durch Volkshochschulkurse, wird es, wenn sich auch die gute Presse daran
beteiligt, in wenig Jahren erreichen können, daß das deutsche Volk wissend
und damit auch wieder voll vertrauend dem Recht und den Gerichten gegen¬
übersteht. Hand in Hand damit muß und wird manche Besserung in der
Gliederung und der Arbeitsleistung der Gerichte wie in der Vorbildung des
Richterstandes gehn, die erwünscht, ja notwendig erscheint, wenn der deutsche
Richter wieder auf eine den hochentwickelten wirtschaftlichen und sozialen Ver¬
hältnissen entsprechende volle Höhe seiner Stellung und Leistungsfähigkeit ge¬
hoben werden soll.




Kulturbilder aus den Balkanstädten
Aarl Dieterich von
^. Allgemeine Physiognomie

irgends kann man die Wahrheit des Satzes von der Berührung
der Extreme so bewährt finden wie auf der Balkanhalbinsel.
Zwei Kulturen schieben sich hier ineinander: die patriarchalisch¬
konservative des Orients und die modern-fortschrittliche des
Occidents. Jene beherrscht das flache Land, diese hat ihren Sitz
in den wenigen großen Städten; jene ist uralt und erstarrt, diese blutjung
und zukunftfreudig; jene ist ein Gewächs des Bodens, diese von außen
importiert. Land und Stadt sind darum auf dem Balkan zwei Welten, die
sich bekämpfen, einander den Boden streitig machen; die Städte sind wie
fremde Mächte in Feindesland, vorgeschobne Kulturfestungen. Man weiß
noch nicht recht: werden sie das Land erobern, oder das Land sie? Wird
das alte geschichtliche oder das neue ungeschichtliche Wesen die Oberhand be¬
halten?

Rein numerisch genommen, hat die junge Stadtkultur auf dem Balkan
einen schweren Stand; denn alle Balkanländer sind wie Rußland und auch
Ungarn, wie überhaupt alle osteuropäischen Länder Bauernländer. Was sie
an einheimischer Kultur haben, ist bäuerliche Kultur; ein starkes Bürgertum
hat sich vor den Pforten des despotischen Orients nie entwickeln können, und
orientalische Mächte haben ja weit über ein Jahrtausend auf dem Boden der
Balkanhalbinsel geherrscht: erst das halborientalische Byzanz, dann das rein¬
asiatische Turkmenen. Während dieser Zeit hat alle städtische Kultur danieder
gelegen, und erst seit fünfundsiebzig Jahren sehen wir hier europäische Städte


Kulturbilder aus den Balkanstaaten

braucht! — zu öffnen, das ist eine wichtige und dankenswerte Aufgabe. Diese
Aufklärung durch Vorträge und Schriften in populärer Form, insbesondre
auch durch Volkshochschulkurse, wird es, wenn sich auch die gute Presse daran
beteiligt, in wenig Jahren erreichen können, daß das deutsche Volk wissend
und damit auch wieder voll vertrauend dem Recht und den Gerichten gegen¬
übersteht. Hand in Hand damit muß und wird manche Besserung in der
Gliederung und der Arbeitsleistung der Gerichte wie in der Vorbildung des
Richterstandes gehn, die erwünscht, ja notwendig erscheint, wenn der deutsche
Richter wieder auf eine den hochentwickelten wirtschaftlichen und sozialen Ver¬
hältnissen entsprechende volle Höhe seiner Stellung und Leistungsfähigkeit ge¬
hoben werden soll.




Kulturbilder aus den Balkanstädten
Aarl Dieterich von
^. Allgemeine Physiognomie

irgends kann man die Wahrheit des Satzes von der Berührung
der Extreme so bewährt finden wie auf der Balkanhalbinsel.
Zwei Kulturen schieben sich hier ineinander: die patriarchalisch¬
konservative des Orients und die modern-fortschrittliche des
Occidents. Jene beherrscht das flache Land, diese hat ihren Sitz
in den wenigen großen Städten; jene ist uralt und erstarrt, diese blutjung
und zukunftfreudig; jene ist ein Gewächs des Bodens, diese von außen
importiert. Land und Stadt sind darum auf dem Balkan zwei Welten, die
sich bekämpfen, einander den Boden streitig machen; die Städte sind wie
fremde Mächte in Feindesland, vorgeschobne Kulturfestungen. Man weiß
noch nicht recht: werden sie das Land erobern, oder das Land sie? Wird
das alte geschichtliche oder das neue ungeschichtliche Wesen die Oberhand be¬
halten?

Rein numerisch genommen, hat die junge Stadtkultur auf dem Balkan
einen schweren Stand; denn alle Balkanländer sind wie Rußland und auch
Ungarn, wie überhaupt alle osteuropäischen Länder Bauernländer. Was sie
an einheimischer Kultur haben, ist bäuerliche Kultur; ein starkes Bürgertum
hat sich vor den Pforten des despotischen Orients nie entwickeln können, und
orientalische Mächte haben ja weit über ein Jahrtausend auf dem Boden der
Balkanhalbinsel geherrscht: erst das halborientalische Byzanz, dann das rein¬
asiatische Turkmenen. Während dieser Zeit hat alle städtische Kultur danieder
gelegen, und erst seit fünfundsiebzig Jahren sehen wir hier europäische Städte


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[0094] Kulturbilder aus den Balkanstaaten braucht! — zu öffnen, das ist eine wichtige und dankenswerte Aufgabe. Diese Aufklärung durch Vorträge und Schriften in populärer Form, insbesondre auch durch Volkshochschulkurse, wird es, wenn sich auch die gute Presse daran beteiligt, in wenig Jahren erreichen können, daß das deutsche Volk wissend und damit auch wieder voll vertrauend dem Recht und den Gerichten gegen¬ übersteht. Hand in Hand damit muß und wird manche Besserung in der Gliederung und der Arbeitsleistung der Gerichte wie in der Vorbildung des Richterstandes gehn, die erwünscht, ja notwendig erscheint, wenn der deutsche Richter wieder auf eine den hochentwickelten wirtschaftlichen und sozialen Ver¬ hältnissen entsprechende volle Höhe seiner Stellung und Leistungsfähigkeit ge¬ hoben werden soll. Kulturbilder aus den Balkanstädten Aarl Dieterich von ^. Allgemeine Physiognomie irgends kann man die Wahrheit des Satzes von der Berührung der Extreme so bewährt finden wie auf der Balkanhalbinsel. Zwei Kulturen schieben sich hier ineinander: die patriarchalisch¬ konservative des Orients und die modern-fortschrittliche des Occidents. Jene beherrscht das flache Land, diese hat ihren Sitz in den wenigen großen Städten; jene ist uralt und erstarrt, diese blutjung und zukunftfreudig; jene ist ein Gewächs des Bodens, diese von außen importiert. Land und Stadt sind darum auf dem Balkan zwei Welten, die sich bekämpfen, einander den Boden streitig machen; die Städte sind wie fremde Mächte in Feindesland, vorgeschobne Kulturfestungen. Man weiß noch nicht recht: werden sie das Land erobern, oder das Land sie? Wird das alte geschichtliche oder das neue ungeschichtliche Wesen die Oberhand be¬ halten? Rein numerisch genommen, hat die junge Stadtkultur auf dem Balkan einen schweren Stand; denn alle Balkanländer sind wie Rußland und auch Ungarn, wie überhaupt alle osteuropäischen Länder Bauernländer. Was sie an einheimischer Kultur haben, ist bäuerliche Kultur; ein starkes Bürgertum hat sich vor den Pforten des despotischen Orients nie entwickeln können, und orientalische Mächte haben ja weit über ein Jahrtausend auf dem Boden der Balkanhalbinsel geherrscht: erst das halborientalische Byzanz, dann das rein¬ asiatische Turkmenen. Während dieser Zeit hat alle städtische Kultur danieder gelegen, und erst seit fünfundsiebzig Jahren sehen wir hier europäische Städte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/94>, abgerufen am 29.04.2024.