Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
llulturbilder aus den Balkanstaaten

emporwachsen, zunächst in Rumänien und in Griechenland, dann auch in
Serbien und in Bulgarien.*)

Diese Wiedereroberung einer dem Orient verfallnen Länder- und Völker¬
gruppe durch moderne europäische Kultur ist zweifellos ein fesselnder Vorgang,
nicht unähnlich dem, der sich vor etwa hundert Jahren in Amerika vollzogen
hat, nur daß unser Gebiet nicht das unbeschriebne Blatt ist wie die Neue
Welt, vielmehr einer von verschiednen Händen beschriebnen alten Handschrift
gleicht, die man in einen modernen, eleganten Einband zu fassen im Be¬
griffe ist.

An diesem Bilde kann man sich den Widerspruch gut vergegenwärtigen,
der zwischen der äußern Form und dem innern Charakter der Balkanhaupt¬
städte klafft, denn daß beides nicht organisch miteinander verbunden ist, werden
die obigen Bemerkungen zur Genüge gezeigt haben. Aber das macht gerade
das Reizvolle an dem Bilde dieser Städte aus, mögen sie nun Bukarest oder
Athen, Belgrad oder Sofia heißen, daß sich hier in einer modernen Staffage
doch der Geist eines eigentümlichen Volkstums zu verkörpern trachtet, das,
freilich in seiner äußern Erscheinungsform mehr und mehr zurückgedrängt, nur
noch in seinen tiefern Wirkungen erkennbar ist, und daß dieses Volkstum,
wie in seinen innersten Offenbarungen, so auch in seinem äußern Gebaren
und seinen Lebensgewohnheiten auf der ganzen Balkanhalbinsel dasselbe ist,
sodaß auch das lebendige Bild, das die genannten vier Städte zeigen, trotz
aller Verschiedenheit des äußern Rahmens im Grunde übereinstimmende Züge
zeigt. Auf diese wollen wir zunächst unser Augenmerk richten.

Was in der äußern Anlage die Balkanstädte von unsern westeuropäischen
unterscheidet und ihren unhistorischen Ursprung verrät, ist, daß innere Stadt
und äußere Stadt in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn wie bei uns:
die innern Stadtteile sind gewöhnlich die modernsten und schönsten, während
nach der Peripherie hin der Charakter immer bunter, ungeordneter und
Primitiver wird, sodaß man nicht mehr weiß, ob man sich in einem Dorf oder
in einer Stadt befindet. Die Sache erklärt sich so: bei der Neuregulierung
und der Modernisierung dieser Städte, die für Bukarest und Athen in den
vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann, wurde die eingesessene
Bevölkerung immer mehr nach außen gedrängt, und da sich diese zum Teil
aus sehr verschiednen Bestandteilen zusammensetzt -- Bukarest zum Beispiel
beherbergt unter seiner niedern Bevölkerung zahlreiche Juden, Bulgaren und
Zigeuner --, so zogen sich diese in besondern Vorstädten zusammen, Machalä
genannt, die einen förmlichen Gürtel um die eigentliche Stadt bilden. So
liegt also die Altstadt draußen, und die Neustadt drinnen. Da die Bahnhöfe



*) Es ist dem Verfasser nicht verborgen, daß die folgenden Ausführungen von den ost¬
europäischen Haupt- und Großstädten überhaupt gelten, also auch vor allem auch von denen
Rußlands. Weil aber die Balkanstädte jünger sind, läßt sich der hier geschilderte Kulturprozeß
an ihrem Beispiel am besten verfolgen.
llulturbilder aus den Balkanstaaten

emporwachsen, zunächst in Rumänien und in Griechenland, dann auch in
Serbien und in Bulgarien.*)

Diese Wiedereroberung einer dem Orient verfallnen Länder- und Völker¬
gruppe durch moderne europäische Kultur ist zweifellos ein fesselnder Vorgang,
nicht unähnlich dem, der sich vor etwa hundert Jahren in Amerika vollzogen
hat, nur daß unser Gebiet nicht das unbeschriebne Blatt ist wie die Neue
Welt, vielmehr einer von verschiednen Händen beschriebnen alten Handschrift
gleicht, die man in einen modernen, eleganten Einband zu fassen im Be¬
griffe ist.

An diesem Bilde kann man sich den Widerspruch gut vergegenwärtigen,
der zwischen der äußern Form und dem innern Charakter der Balkanhaupt¬
städte klafft, denn daß beides nicht organisch miteinander verbunden ist, werden
die obigen Bemerkungen zur Genüge gezeigt haben. Aber das macht gerade
das Reizvolle an dem Bilde dieser Städte aus, mögen sie nun Bukarest oder
Athen, Belgrad oder Sofia heißen, daß sich hier in einer modernen Staffage
doch der Geist eines eigentümlichen Volkstums zu verkörpern trachtet, das,
freilich in seiner äußern Erscheinungsform mehr und mehr zurückgedrängt, nur
noch in seinen tiefern Wirkungen erkennbar ist, und daß dieses Volkstum,
wie in seinen innersten Offenbarungen, so auch in seinem äußern Gebaren
und seinen Lebensgewohnheiten auf der ganzen Balkanhalbinsel dasselbe ist,
sodaß auch das lebendige Bild, das die genannten vier Städte zeigen, trotz
aller Verschiedenheit des äußern Rahmens im Grunde übereinstimmende Züge
zeigt. Auf diese wollen wir zunächst unser Augenmerk richten.

Was in der äußern Anlage die Balkanstädte von unsern westeuropäischen
unterscheidet und ihren unhistorischen Ursprung verrät, ist, daß innere Stadt
und äußere Stadt in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn wie bei uns:
die innern Stadtteile sind gewöhnlich die modernsten und schönsten, während
nach der Peripherie hin der Charakter immer bunter, ungeordneter und
Primitiver wird, sodaß man nicht mehr weiß, ob man sich in einem Dorf oder
in einer Stadt befindet. Die Sache erklärt sich so: bei der Neuregulierung
und der Modernisierung dieser Städte, die für Bukarest und Athen in den
vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann, wurde die eingesessene
Bevölkerung immer mehr nach außen gedrängt, und da sich diese zum Teil
aus sehr verschiednen Bestandteilen zusammensetzt — Bukarest zum Beispiel
beherbergt unter seiner niedern Bevölkerung zahlreiche Juden, Bulgaren und
Zigeuner —, so zogen sich diese in besondern Vorstädten zusammen, Machalä
genannt, die einen förmlichen Gürtel um die eigentliche Stadt bilden. So
liegt also die Altstadt draußen, und die Neustadt drinnen. Da die Bahnhöfe



*) Es ist dem Verfasser nicht verborgen, daß die folgenden Ausführungen von den ost¬
europäischen Haupt- und Großstädten überhaupt gelten, also auch vor allem auch von denen
Rußlands. Weil aber die Balkanstädte jünger sind, läßt sich der hier geschilderte Kulturprozeß
an ihrem Beispiel am besten verfolgen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0095" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300594"/>
            <fw type="header" place="top"> llulturbilder aus den Balkanstaaten</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_294" prev="#ID_293"> emporwachsen, zunächst in Rumänien und in Griechenland, dann auch in<lb/>
Serbien und in Bulgarien.*)</p><lb/>
            <p xml:id="ID_295"> Diese Wiedereroberung einer dem Orient verfallnen Länder- und Völker¬<lb/>
gruppe durch moderne europäische Kultur ist zweifellos ein fesselnder Vorgang,<lb/>
nicht unähnlich dem, der sich vor etwa hundert Jahren in Amerika vollzogen<lb/>
hat, nur daß unser Gebiet nicht das unbeschriebne Blatt ist wie die Neue<lb/>
Welt, vielmehr einer von verschiednen Händen beschriebnen alten Handschrift<lb/>
gleicht, die man in einen modernen, eleganten Einband zu fassen im Be¬<lb/>
griffe ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_296"> An diesem Bilde kann man sich den Widerspruch gut vergegenwärtigen,<lb/>
der zwischen der äußern Form und dem innern Charakter der Balkanhaupt¬<lb/>
städte klafft, denn daß beides nicht organisch miteinander verbunden ist, werden<lb/>
die obigen Bemerkungen zur Genüge gezeigt haben. Aber das macht gerade<lb/>
das Reizvolle an dem Bilde dieser Städte aus, mögen sie nun Bukarest oder<lb/>
Athen, Belgrad oder Sofia heißen, daß sich hier in einer modernen Staffage<lb/>
doch der Geist eines eigentümlichen Volkstums zu verkörpern trachtet, das,<lb/>
freilich in seiner äußern Erscheinungsform mehr und mehr zurückgedrängt, nur<lb/>
noch in seinen tiefern Wirkungen erkennbar ist, und daß dieses Volkstum,<lb/>
wie in seinen innersten Offenbarungen, so auch in seinem äußern Gebaren<lb/>
und seinen Lebensgewohnheiten auf der ganzen Balkanhalbinsel dasselbe ist,<lb/>
sodaß auch das lebendige Bild, das die genannten vier Städte zeigen, trotz<lb/>
aller Verschiedenheit des äußern Rahmens im Grunde übereinstimmende Züge<lb/>
zeigt. Auf diese wollen wir zunächst unser Augenmerk richten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_297" next="#ID_298"> Was in der äußern Anlage die Balkanstädte von unsern westeuropäischen<lb/>
unterscheidet und ihren unhistorischen Ursprung verrät, ist, daß innere Stadt<lb/>
und äußere Stadt in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn wie bei uns:<lb/>
die innern Stadtteile sind gewöhnlich die modernsten und schönsten, während<lb/>
nach der Peripherie hin der Charakter immer bunter, ungeordneter und<lb/>
Primitiver wird, sodaß man nicht mehr weiß, ob man sich in einem Dorf oder<lb/>
in einer Stadt befindet. Die Sache erklärt sich so: bei der Neuregulierung<lb/>
und der Modernisierung dieser Städte, die für Bukarest und Athen in den<lb/>
vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann, wurde die eingesessene<lb/>
Bevölkerung immer mehr nach außen gedrängt, und da sich diese zum Teil<lb/>
aus sehr verschiednen Bestandteilen zusammensetzt &#x2014; Bukarest zum Beispiel<lb/>
beherbergt unter seiner niedern Bevölkerung zahlreiche Juden, Bulgaren und<lb/>
Zigeuner &#x2014;, so zogen sich diese in besondern Vorstädten zusammen, Machalä<lb/>
genannt, die einen förmlichen Gürtel um die eigentliche Stadt bilden. So<lb/>
liegt also die Altstadt draußen, und die Neustadt drinnen. Da die Bahnhöfe</p><lb/>
            <note xml:id="FID_5" place="foot"> *) Es ist dem Verfasser nicht verborgen, daß die folgenden Ausführungen von den ost¬<lb/>
europäischen Haupt- und Großstädten überhaupt gelten, also auch vor allem auch von denen<lb/>
Rußlands. Weil aber die Balkanstädte jünger sind, läßt sich der hier geschilderte Kulturprozeß<lb/>
an ihrem Beispiel am besten verfolgen.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0095] llulturbilder aus den Balkanstaaten emporwachsen, zunächst in Rumänien und in Griechenland, dann auch in Serbien und in Bulgarien.*) Diese Wiedereroberung einer dem Orient verfallnen Länder- und Völker¬ gruppe durch moderne europäische Kultur ist zweifellos ein fesselnder Vorgang, nicht unähnlich dem, der sich vor etwa hundert Jahren in Amerika vollzogen hat, nur daß unser Gebiet nicht das unbeschriebne Blatt ist wie die Neue Welt, vielmehr einer von verschiednen Händen beschriebnen alten Handschrift gleicht, die man in einen modernen, eleganten Einband zu fassen im Be¬ griffe ist. An diesem Bilde kann man sich den Widerspruch gut vergegenwärtigen, der zwischen der äußern Form und dem innern Charakter der Balkanhaupt¬ städte klafft, denn daß beides nicht organisch miteinander verbunden ist, werden die obigen Bemerkungen zur Genüge gezeigt haben. Aber das macht gerade das Reizvolle an dem Bilde dieser Städte aus, mögen sie nun Bukarest oder Athen, Belgrad oder Sofia heißen, daß sich hier in einer modernen Staffage doch der Geist eines eigentümlichen Volkstums zu verkörpern trachtet, das, freilich in seiner äußern Erscheinungsform mehr und mehr zurückgedrängt, nur noch in seinen tiefern Wirkungen erkennbar ist, und daß dieses Volkstum, wie in seinen innersten Offenbarungen, so auch in seinem äußern Gebaren und seinen Lebensgewohnheiten auf der ganzen Balkanhalbinsel dasselbe ist, sodaß auch das lebendige Bild, das die genannten vier Städte zeigen, trotz aller Verschiedenheit des äußern Rahmens im Grunde übereinstimmende Züge zeigt. Auf diese wollen wir zunächst unser Augenmerk richten. Was in der äußern Anlage die Balkanstädte von unsern westeuropäischen unterscheidet und ihren unhistorischen Ursprung verrät, ist, daß innere Stadt und äußere Stadt in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn wie bei uns: die innern Stadtteile sind gewöhnlich die modernsten und schönsten, während nach der Peripherie hin der Charakter immer bunter, ungeordneter und Primitiver wird, sodaß man nicht mehr weiß, ob man sich in einem Dorf oder in einer Stadt befindet. Die Sache erklärt sich so: bei der Neuregulierung und der Modernisierung dieser Städte, die für Bukarest und Athen in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann, wurde die eingesessene Bevölkerung immer mehr nach außen gedrängt, und da sich diese zum Teil aus sehr verschiednen Bestandteilen zusammensetzt — Bukarest zum Beispiel beherbergt unter seiner niedern Bevölkerung zahlreiche Juden, Bulgaren und Zigeuner —, so zogen sich diese in besondern Vorstädten zusammen, Machalä genannt, die einen förmlichen Gürtel um die eigentliche Stadt bilden. So liegt also die Altstadt draußen, und die Neustadt drinnen. Da die Bahnhöfe *) Es ist dem Verfasser nicht verborgen, daß die folgenden Ausführungen von den ost¬ europäischen Haupt- und Großstädten überhaupt gelten, also auch vor allem auch von denen Rußlands. Weil aber die Balkanstädte jünger sind, läßt sich der hier geschilderte Kulturprozeß an ihrem Beispiel am besten verfolgen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/95
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/95>, abgerufen am 15.05.2024.