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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lessing als Philosoph

kommen sehen. Dieser avis an leotsur ÜW^is ist immerhin bezeichnend. Die
englischen Leser des ?iM0 werden aber Hurets Auslassungen mit einem ge¬
wissen Gleichmut hinnehmen, da ihnen die deutsche Gefahr von ihrer eignen
Presse schon in viel grellem Farben geschildert worden ist, und sie bei der
stetigen Zunahme ihres eignen Wohlstandes nicht mehr recht an den angeb¬
lichen Niedergang Englands glauben, wenn es ihnen auch sehr erwünscht sein
würde, den lästigen deutschen Vetter in irgendeiner Weise vom Halse zu be¬
kommen. Aber das überläßt Albion wohlweislich andern und wird Herrn Huret
kaum den Gefallen tun, sich für Frankreich die Finger zu verbrennen und den
v. F. kuror tsuwnious anf die Probe zu stellen.




Lessing als Philosoph

er in Lessings philosophische und religiöse Weltauffassung tiefer
eindringen will, der muß dreierlei haben: den unwiderstehlichen
Drang nach Wahrheit, der Lessing beseelte, seinen scharfen Ver¬
stand und seine Fähigkeit zur Objektivität den eignen Gedanken

Unter den Schriftstellern, die über Lessing geschrieben haben, dürfte es
nnr sehr wenige geben, bei denen diese Eigenschaften in so hohem Maße ans-
gebildet sind wie bei Chr. Schrempf. Und deshalb ist es eine besondre Freude,
gewährt es einen eigentümlichen Genuß, aus Schrempfs neustem Buche*) zu
sehen, wie uns dieser Lessing verwandte Geist dessen Wollen und Wesen deutet
und es uns in mancher Hinsicht von einer ganz neuen Seite nahe bringt.

Schrempf geht aus von der Frage: "Wer ist ein Philosoph?" Und er
antwortet: "Wer in fragmentarischem Wissen kein Genüge findet; wer in der
bloßen Wahrscheinlichkeit nicht zur Ruhe kommt, wer einen Widerspruch zwischen
Denken und Leben nicht vertragen kann: der ist ein Philosoph." Auf Bedeutung
aber kann ein Philosoph nur Anspruch erheben, wenn er eine der in der
Philosophie zusammentreffenden Tendenzen oder eine gewisse Kombination
davon in typischer Weise vertritt. Da Lessing der lehrreiche Typus einer be¬
rechtigten Art des philosophischen Denkens ist, so verlohnt es sich, ihn als
Philosophen genau anzusehen.

Welchen Typus aber repräsentiert er? Daß Philosophie ohne Enthusiasmus
"icht zu denken ist, spricht er offen aus; ebenso unzweideutig jedoch bekennt er,
daß er für die Selbstgewißheit des Enthusiasten unempfänglich ist. Er gehört



') Lessing als Philosoph von Chr. Schremps. Swtlgart, Fr. Frommanns Verlag
(E, Hauff), IM)". XIX. Band.von Fronnnanns "Klassikern der Philosophie". 208 S.
Grenzboten II 1907 ^
Lessing als Philosoph

kommen sehen. Dieser avis an leotsur ÜW^is ist immerhin bezeichnend. Die
englischen Leser des ?iM0 werden aber Hurets Auslassungen mit einem ge¬
wissen Gleichmut hinnehmen, da ihnen die deutsche Gefahr von ihrer eignen
Presse schon in viel grellem Farben geschildert worden ist, und sie bei der
stetigen Zunahme ihres eignen Wohlstandes nicht mehr recht an den angeb¬
lichen Niedergang Englands glauben, wenn es ihnen auch sehr erwünscht sein
würde, den lästigen deutschen Vetter in irgendeiner Weise vom Halse zu be¬
kommen. Aber das überläßt Albion wohlweislich andern und wird Herrn Huret
kaum den Gefallen tun, sich für Frankreich die Finger zu verbrennen und den
v. F. kuror tsuwnious anf die Probe zu stellen.




Lessing als Philosoph

er in Lessings philosophische und religiöse Weltauffassung tiefer
eindringen will, der muß dreierlei haben: den unwiderstehlichen
Drang nach Wahrheit, der Lessing beseelte, seinen scharfen Ver¬
stand und seine Fähigkeit zur Objektivität den eignen Gedanken

Unter den Schriftstellern, die über Lessing geschrieben haben, dürfte es
nnr sehr wenige geben, bei denen diese Eigenschaften in so hohem Maße ans-
gebildet sind wie bei Chr. Schrempf. Und deshalb ist es eine besondre Freude,
gewährt es einen eigentümlichen Genuß, aus Schrempfs neustem Buche*) zu
sehen, wie uns dieser Lessing verwandte Geist dessen Wollen und Wesen deutet
und es uns in mancher Hinsicht von einer ganz neuen Seite nahe bringt.

Schrempf geht aus von der Frage: „Wer ist ein Philosoph?" Und er
antwortet: „Wer in fragmentarischem Wissen kein Genüge findet; wer in der
bloßen Wahrscheinlichkeit nicht zur Ruhe kommt, wer einen Widerspruch zwischen
Denken und Leben nicht vertragen kann: der ist ein Philosoph." Auf Bedeutung
aber kann ein Philosoph nur Anspruch erheben, wenn er eine der in der
Philosophie zusammentreffenden Tendenzen oder eine gewisse Kombination
davon in typischer Weise vertritt. Da Lessing der lehrreiche Typus einer be¬
rechtigten Art des philosophischen Denkens ist, so verlohnt es sich, ihn als
Philosophen genau anzusehen.

Welchen Typus aber repräsentiert er? Daß Philosophie ohne Enthusiasmus
"icht zu denken ist, spricht er offen aus; ebenso unzweideutig jedoch bekennt er,
daß er für die Selbstgewißheit des Enthusiasten unempfänglich ist. Er gehört



') Lessing als Philosoph von Chr. Schremps. Swtlgart, Fr. Frommanns Verlag
(E, Hauff), IM)«. XIX. Band.von Fronnnanns „Klassikern der Philosophie". 208 S.
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[0357] Lessing als Philosoph kommen sehen. Dieser avis an leotsur ÜW^is ist immerhin bezeichnend. Die englischen Leser des ?iM0 werden aber Hurets Auslassungen mit einem ge¬ wissen Gleichmut hinnehmen, da ihnen die deutsche Gefahr von ihrer eignen Presse schon in viel grellem Farben geschildert worden ist, und sie bei der stetigen Zunahme ihres eignen Wohlstandes nicht mehr recht an den angeb¬ lichen Niedergang Englands glauben, wenn es ihnen auch sehr erwünscht sein würde, den lästigen deutschen Vetter in irgendeiner Weise vom Halse zu be¬ kommen. Aber das überläßt Albion wohlweislich andern und wird Herrn Huret kaum den Gefallen tun, sich für Frankreich die Finger zu verbrennen und den v. F. kuror tsuwnious anf die Probe zu stellen. Lessing als Philosoph er in Lessings philosophische und religiöse Weltauffassung tiefer eindringen will, der muß dreierlei haben: den unwiderstehlichen Drang nach Wahrheit, der Lessing beseelte, seinen scharfen Ver¬ stand und seine Fähigkeit zur Objektivität den eignen Gedanken Unter den Schriftstellern, die über Lessing geschrieben haben, dürfte es nnr sehr wenige geben, bei denen diese Eigenschaften in so hohem Maße ans- gebildet sind wie bei Chr. Schrempf. Und deshalb ist es eine besondre Freude, gewährt es einen eigentümlichen Genuß, aus Schrempfs neustem Buche*) zu sehen, wie uns dieser Lessing verwandte Geist dessen Wollen und Wesen deutet und es uns in mancher Hinsicht von einer ganz neuen Seite nahe bringt. Schrempf geht aus von der Frage: „Wer ist ein Philosoph?" Und er antwortet: „Wer in fragmentarischem Wissen kein Genüge findet; wer in der bloßen Wahrscheinlichkeit nicht zur Ruhe kommt, wer einen Widerspruch zwischen Denken und Leben nicht vertragen kann: der ist ein Philosoph." Auf Bedeutung aber kann ein Philosoph nur Anspruch erheben, wenn er eine der in der Philosophie zusammentreffenden Tendenzen oder eine gewisse Kombination davon in typischer Weise vertritt. Da Lessing der lehrreiche Typus einer be¬ rechtigten Art des philosophischen Denkens ist, so verlohnt es sich, ihn als Philosophen genau anzusehen. Welchen Typus aber repräsentiert er? Daß Philosophie ohne Enthusiasmus "icht zu denken ist, spricht er offen aus; ebenso unzweideutig jedoch bekennt er, daß er für die Selbstgewißheit des Enthusiasten unempfänglich ist. Er gehört ') Lessing als Philosoph von Chr. Schremps. Swtlgart, Fr. Frommanns Verlag (E, Hauff), IM)«. XIX. Band.von Fronnnanns „Klassikern der Philosophie". 208 S. Grenzboten II 1907 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/357>, abgerufen am 02.05.2024.