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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Der Prediger in Nöten

denen in Buchara. Auch hier öffnet sich kein Fenster auf die Straßen; nur
schmale Türen schlagen gelegentlich auf und gestatten einen flüchtigen Ein¬
blick in einen Sartenhof, auf die Hallen unter den übergebauten flachen Dächern.
Eine Straße gleicht der andern, und diese Gleichheit erschwert die Orientierung
so sehr, daß man sich bei der Ausdehnung der Stadt auf 23 Quadratkilometer
sehr wohl verlaufen kann, da aus den engen Straßen kein Orientierungspunkt
zu erblicken ist; auch der berühmte Hinrichtungsturm für Ehebrecherinnen hinter
der Registcm-Medrese ist nicht allzuweit zu sehen, und andre bedeutende Bau¬
werke von historischem Wert sind wenig vertreten.

Befriedigt wird man nach mehrstündigem Basarbesuch an den vielen Tee¬
stuben, auch den in den Ssoch gebauten, an den Bäcker- und Fleischerladen
vorüber dem Mittagessen im Grand Hotel zustreben. I^neuf a mein luoöuäo.
Groß ist es nicht und Hotel eigentlich auch nicht. Mangelnde Überein¬
stimmung zwischen Besitzer und Polizei nötigt den Durstigen, noch nicht auf
das Blaue Kreuz eingeschwornen Gast zum sehnigen Braten den Apanagen¬
wein aus Tassen zu trinken und die Flasche unter den Tisch zu stellen.
Unser noch nicht gestilltes Sehnen des seit einigen Tagen nicht verwöhnten
Magens ließ sich aber in einer Konditorei einigermaßen befriedigen. Eine
gewisse Verwunderung werden die Portionen wohl erweckt haben, die wir
dort vertilgten. Mit dieser Grundlage ließen sich selbst die zwei Stunden
Aufenthalt in Tschernjajewo ertragen, wo wir nach sechsstündiger Fahrt wieder
den Zug wechseln mußten. Dank einiger Verspätung kamen wir am folgenden
Morgen zu nicht allzu früher Stunde in Taschkend an.

Die Hungersteppe mit ihren interessanten Bewässerungsanlagen, durch
die ein ausgedehntes Kolonisationsgebiet gewonnen werden soll, und die
Brücke über den Ssyr-Darja haben wir freilich verschlafen und leider auch
der geschichtlich seit den Zeiten des Kyros und seiner großen Feindin
Tomira so interessanten Gegend kaum das gebührende Verständnis entgegen¬
gebracht. _




Der Prediger in Nöten
Thomas Hardy von(Fortsetzung)

er Morgen kam. Stockdale stand früh auf; sein Schnupfen war ganz
weg. Nie in seinem Leben hatte er so die Frühstückszeit herbei¬
gesehnt wie an diesem Tage, und Punkt acht Uhr trat er, nach einem
kurzen Spaziergang, auf dem er die nächste Umgebung rekognosziert
hatte, wieder in seine Zimmertür. Das Frühstück ging vorüber,
Martha Sara bediente, aber niemand ließ sich sehen, um wie am
Abend vorher zu fragen, ob er noch weitere Wünsche hätte, die zu erfüllen man
versuchen könnte. Er war enttäuscht und ging aus, in der Hoffnung, Lizzy beim
Mittagessen zu sehen. Die Mittagszeit kam; er setzte sich zu Tisch, speiste, zögerte
eine volle Stunde, obwohl zwei neue Lehrer an der Kapellentür nach Verabredung
auf ihn warteten. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger aufzuhalten; so ging er
langsam das Gäßchen hinunter, gutes Muts bei dem Gedanken, daß er sie schließlich
am Abend sehen würde, und beiß sie vielleicht wieder das nette Faßanzapfen im


Der Prediger in Nöten

denen in Buchara. Auch hier öffnet sich kein Fenster auf die Straßen; nur
schmale Türen schlagen gelegentlich auf und gestatten einen flüchtigen Ein¬
blick in einen Sartenhof, auf die Hallen unter den übergebauten flachen Dächern.
Eine Straße gleicht der andern, und diese Gleichheit erschwert die Orientierung
so sehr, daß man sich bei der Ausdehnung der Stadt auf 23 Quadratkilometer
sehr wohl verlaufen kann, da aus den engen Straßen kein Orientierungspunkt
zu erblicken ist; auch der berühmte Hinrichtungsturm für Ehebrecherinnen hinter
der Registcm-Medrese ist nicht allzuweit zu sehen, und andre bedeutende Bau¬
werke von historischem Wert sind wenig vertreten.

Befriedigt wird man nach mehrstündigem Basarbesuch an den vielen Tee¬
stuben, auch den in den Ssoch gebauten, an den Bäcker- und Fleischerladen
vorüber dem Mittagessen im Grand Hotel zustreben. I^neuf a mein luoöuäo.
Groß ist es nicht und Hotel eigentlich auch nicht. Mangelnde Überein¬
stimmung zwischen Besitzer und Polizei nötigt den Durstigen, noch nicht auf
das Blaue Kreuz eingeschwornen Gast zum sehnigen Braten den Apanagen¬
wein aus Tassen zu trinken und die Flasche unter den Tisch zu stellen.
Unser noch nicht gestilltes Sehnen des seit einigen Tagen nicht verwöhnten
Magens ließ sich aber in einer Konditorei einigermaßen befriedigen. Eine
gewisse Verwunderung werden die Portionen wohl erweckt haben, die wir
dort vertilgten. Mit dieser Grundlage ließen sich selbst die zwei Stunden
Aufenthalt in Tschernjajewo ertragen, wo wir nach sechsstündiger Fahrt wieder
den Zug wechseln mußten. Dank einiger Verspätung kamen wir am folgenden
Morgen zu nicht allzu früher Stunde in Taschkend an.

Die Hungersteppe mit ihren interessanten Bewässerungsanlagen, durch
die ein ausgedehntes Kolonisationsgebiet gewonnen werden soll, und die
Brücke über den Ssyr-Darja haben wir freilich verschlafen und leider auch
der geschichtlich seit den Zeiten des Kyros und seiner großen Feindin
Tomira so interessanten Gegend kaum das gebührende Verständnis entgegen¬
gebracht. _




Der Prediger in Nöten
Thomas Hardy von(Fortsetzung)

er Morgen kam. Stockdale stand früh auf; sein Schnupfen war ganz
weg. Nie in seinem Leben hatte er so die Frühstückszeit herbei¬
gesehnt wie an diesem Tage, und Punkt acht Uhr trat er, nach einem
kurzen Spaziergang, auf dem er die nächste Umgebung rekognosziert
hatte, wieder in seine Zimmertür. Das Frühstück ging vorüber,
Martha Sara bediente, aber niemand ließ sich sehen, um wie am
Abend vorher zu fragen, ob er noch weitere Wünsche hätte, die zu erfüllen man
versuchen könnte. Er war enttäuscht und ging aus, in der Hoffnung, Lizzy beim
Mittagessen zu sehen. Die Mittagszeit kam; er setzte sich zu Tisch, speiste, zögerte
eine volle Stunde, obwohl zwei neue Lehrer an der Kapellentür nach Verabredung
auf ihn warteten. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger aufzuhalten; so ging er
langsam das Gäßchen hinunter, gutes Muts bei dem Gedanken, daß er sie schließlich
am Abend sehen würde, und beiß sie vielleicht wieder das nette Faßanzapfen im


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[0102] Der Prediger in Nöten denen in Buchara. Auch hier öffnet sich kein Fenster auf die Straßen; nur schmale Türen schlagen gelegentlich auf und gestatten einen flüchtigen Ein¬ blick in einen Sartenhof, auf die Hallen unter den übergebauten flachen Dächern. Eine Straße gleicht der andern, und diese Gleichheit erschwert die Orientierung so sehr, daß man sich bei der Ausdehnung der Stadt auf 23 Quadratkilometer sehr wohl verlaufen kann, da aus den engen Straßen kein Orientierungspunkt zu erblicken ist; auch der berühmte Hinrichtungsturm für Ehebrecherinnen hinter der Registcm-Medrese ist nicht allzuweit zu sehen, und andre bedeutende Bau¬ werke von historischem Wert sind wenig vertreten. Befriedigt wird man nach mehrstündigem Basarbesuch an den vielen Tee¬ stuben, auch den in den Ssoch gebauten, an den Bäcker- und Fleischerladen vorüber dem Mittagessen im Grand Hotel zustreben. I^neuf a mein luoöuäo. Groß ist es nicht und Hotel eigentlich auch nicht. Mangelnde Überein¬ stimmung zwischen Besitzer und Polizei nötigt den Durstigen, noch nicht auf das Blaue Kreuz eingeschwornen Gast zum sehnigen Braten den Apanagen¬ wein aus Tassen zu trinken und die Flasche unter den Tisch zu stellen. Unser noch nicht gestilltes Sehnen des seit einigen Tagen nicht verwöhnten Magens ließ sich aber in einer Konditorei einigermaßen befriedigen. Eine gewisse Verwunderung werden die Portionen wohl erweckt haben, die wir dort vertilgten. Mit dieser Grundlage ließen sich selbst die zwei Stunden Aufenthalt in Tschernjajewo ertragen, wo wir nach sechsstündiger Fahrt wieder den Zug wechseln mußten. Dank einiger Verspätung kamen wir am folgenden Morgen zu nicht allzu früher Stunde in Taschkend an. Die Hungersteppe mit ihren interessanten Bewässerungsanlagen, durch die ein ausgedehntes Kolonisationsgebiet gewonnen werden soll, und die Brücke über den Ssyr-Darja haben wir freilich verschlafen und leider auch der geschichtlich seit den Zeiten des Kyros und seiner großen Feindin Tomira so interessanten Gegend kaum das gebührende Verständnis entgegen¬ gebracht. _ Der Prediger in Nöten Thomas Hardy von(Fortsetzung) er Morgen kam. Stockdale stand früh auf; sein Schnupfen war ganz weg. Nie in seinem Leben hatte er so die Frühstückszeit herbei¬ gesehnt wie an diesem Tage, und Punkt acht Uhr trat er, nach einem kurzen Spaziergang, auf dem er die nächste Umgebung rekognosziert hatte, wieder in seine Zimmertür. Das Frühstück ging vorüber, Martha Sara bediente, aber niemand ließ sich sehen, um wie am Abend vorher zu fragen, ob er noch weitere Wünsche hätte, die zu erfüllen man versuchen könnte. Er war enttäuscht und ging aus, in der Hoffnung, Lizzy beim Mittagessen zu sehen. Die Mittagszeit kam; er setzte sich zu Tisch, speiste, zögerte eine volle Stunde, obwohl zwei neue Lehrer an der Kapellentür nach Verabredung auf ihn warteten. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger aufzuhalten; so ging er langsam das Gäßchen hinunter, gutes Muts bei dem Gedanken, daß er sie schließlich am Abend sehen würde, und beiß sie vielleicht wieder das nette Faßanzapfen im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/102>, abgerufen am 29.04.2024.