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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder

genau zu formulieren." Diese Zeugnisse sind nicht ganz einwandfrei. Um so mehr
muß das des Herrn von Beust gelten. Wir werden sehen, wie Beust selber eiues
Tages die aus den Briefen folgende moralische Verpflichtung anerkannte. Und
der in Viktor Emanuels Brief ausgedrückte Zweifel an der Festigkeit des Friedens,
der Hinweis auf das Unbefriedigende des gegenwärtigen Zustandes, auf die
Notwendigkeit, unberechtigten Ansprüchen entgegenzutreten und den Frieden
Europas auf festere Grundlagen zu stellen, ging doch über den Rahmen eines
bloß defensiven Bündnisses unzweifelhaft hinaus. Der Kaiser hatte persönliche
Zusicherungen erhalten, die er jeden Augenblick -- erforderlichenfalls durch Ein¬
räumungen in der römischen Frage -- imstande war, zu einem bindenden Ver¬
trag zu verdichten. Vorläufig genügte ihm dies. Er hatte seine Absichten nicht
aufgegeben, aber sie waren bei seinem schwankenden Charakter, und da in der
politischen Lage kein Grund zu raschem Zugreifen lag, noch zu keinem festen
Entschluß gediehen. Im November sagte er zum General Lebrun: "Man wird
das Bündnis Italiens als gewiß, das Österreichs als moralisch, wo nicht tat¬
sächlich gesichert betrachten dürfen."




Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder
R. Werner von

as neunzehnte Jahrhundert hat deu meisten Staaten den Konsti-
tutionalismus gebracht, d. h. die Verfassungsform, die dem Volk
eine aktive Stellung im Staatsleben gibt, ihm eine Teilnahme
an der Staatswillensbildnng gewährt. Nachdem Sachsen-Weimar
im Jahre 1816 und Bayern im Jahre 1818 vorangegangen waren,
erhielten Sachsen am 4. September 1831 und Preußen am 31. Januar 1850
ihre "Verfassungsurkunden", mit denen die in Preußen ja schon durch die
Stein-Hardenbergischen Reformen angestrebte Aufnahme einer "Repräsentation
des Volkes" in den Staatsorganismus erfolgt war. So wird das deutsche
Volk durch die Landesboten in den Landtagen und durch die Reichsboten im
Reichstag zur Kundgebung des Volkswillens vertreten. Jedoch Volksvertreter
im technischen Sinne des Wortes sind die Reichs- und Landtagsmitglieder nicht;
denn ein Vertreter ist als solcher gebunden durch die Weisungen seines Auf¬
traggebers. Das ist aber bei jenen nicht der Fall: "Die Mitglieder beider
Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien
Überzeugung und sind an Auftrüge und Instruktionen nicht gebunden" (Art. 83
der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat) -- "Die Abgeordneten
haben eine Instruktion von ihren Kommittenten nicht anzunehmen, sondern nur
ihrer eignen Überzeugmig zu folgen" K 81 Absatz 1 Satz 2 der Verfasstmgs-


Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder

genau zu formulieren." Diese Zeugnisse sind nicht ganz einwandfrei. Um so mehr
muß das des Herrn von Beust gelten. Wir werden sehen, wie Beust selber eiues
Tages die aus den Briefen folgende moralische Verpflichtung anerkannte. Und
der in Viktor Emanuels Brief ausgedrückte Zweifel an der Festigkeit des Friedens,
der Hinweis auf das Unbefriedigende des gegenwärtigen Zustandes, auf die
Notwendigkeit, unberechtigten Ansprüchen entgegenzutreten und den Frieden
Europas auf festere Grundlagen zu stellen, ging doch über den Rahmen eines
bloß defensiven Bündnisses unzweifelhaft hinaus. Der Kaiser hatte persönliche
Zusicherungen erhalten, die er jeden Augenblick — erforderlichenfalls durch Ein¬
räumungen in der römischen Frage — imstande war, zu einem bindenden Ver¬
trag zu verdichten. Vorläufig genügte ihm dies. Er hatte seine Absichten nicht
aufgegeben, aber sie waren bei seinem schwankenden Charakter, und da in der
politischen Lage kein Grund zu raschem Zugreifen lag, noch zu keinem festen
Entschluß gediehen. Im November sagte er zum General Lebrun: „Man wird
das Bündnis Italiens als gewiß, das Österreichs als moralisch, wo nicht tat¬
sächlich gesichert betrachten dürfen."




Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder
R. Werner von

as neunzehnte Jahrhundert hat deu meisten Staaten den Konsti-
tutionalismus gebracht, d. h. die Verfassungsform, die dem Volk
eine aktive Stellung im Staatsleben gibt, ihm eine Teilnahme
an der Staatswillensbildnng gewährt. Nachdem Sachsen-Weimar
im Jahre 1816 und Bayern im Jahre 1818 vorangegangen waren,
erhielten Sachsen am 4. September 1831 und Preußen am 31. Januar 1850
ihre „Verfassungsurkunden", mit denen die in Preußen ja schon durch die
Stein-Hardenbergischen Reformen angestrebte Aufnahme einer „Repräsentation
des Volkes" in den Staatsorganismus erfolgt war. So wird das deutsche
Volk durch die Landesboten in den Landtagen und durch die Reichsboten im
Reichstag zur Kundgebung des Volkswillens vertreten. Jedoch Volksvertreter
im technischen Sinne des Wortes sind die Reichs- und Landtagsmitglieder nicht;
denn ein Vertreter ist als solcher gebunden durch die Weisungen seines Auf¬
traggebers. Das ist aber bei jenen nicht der Fall: „Die Mitglieder beider
Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien
Überzeugung und sind an Auftrüge und Instruktionen nicht gebunden" (Art. 83
der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat) — „Die Abgeordneten
haben eine Instruktion von ihren Kommittenten nicht anzunehmen, sondern nur
ihrer eignen Überzeugmig zu folgen" K 81 Absatz 1 Satz 2 der Verfasstmgs-


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[0026] Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder genau zu formulieren." Diese Zeugnisse sind nicht ganz einwandfrei. Um so mehr muß das des Herrn von Beust gelten. Wir werden sehen, wie Beust selber eiues Tages die aus den Briefen folgende moralische Verpflichtung anerkannte. Und der in Viktor Emanuels Brief ausgedrückte Zweifel an der Festigkeit des Friedens, der Hinweis auf das Unbefriedigende des gegenwärtigen Zustandes, auf die Notwendigkeit, unberechtigten Ansprüchen entgegenzutreten und den Frieden Europas auf festere Grundlagen zu stellen, ging doch über den Rahmen eines bloß defensiven Bündnisses unzweifelhaft hinaus. Der Kaiser hatte persönliche Zusicherungen erhalten, die er jeden Augenblick — erforderlichenfalls durch Ein¬ räumungen in der römischen Frage — imstande war, zu einem bindenden Ver¬ trag zu verdichten. Vorläufig genügte ihm dies. Er hatte seine Absichten nicht aufgegeben, aber sie waren bei seinem schwankenden Charakter, und da in der politischen Lage kein Grund zu raschem Zugreifen lag, noch zu keinem festen Entschluß gediehen. Im November sagte er zum General Lebrun: „Man wird das Bündnis Italiens als gewiß, das Österreichs als moralisch, wo nicht tat¬ sächlich gesichert betrachten dürfen." Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder R. Werner von as neunzehnte Jahrhundert hat deu meisten Staaten den Konsti- tutionalismus gebracht, d. h. die Verfassungsform, die dem Volk eine aktive Stellung im Staatsleben gibt, ihm eine Teilnahme an der Staatswillensbildnng gewährt. Nachdem Sachsen-Weimar im Jahre 1816 und Bayern im Jahre 1818 vorangegangen waren, erhielten Sachsen am 4. September 1831 und Preußen am 31. Januar 1850 ihre „Verfassungsurkunden", mit denen die in Preußen ja schon durch die Stein-Hardenbergischen Reformen angestrebte Aufnahme einer „Repräsentation des Volkes" in den Staatsorganismus erfolgt war. So wird das deutsche Volk durch die Landesboten in den Landtagen und durch die Reichsboten im Reichstag zur Kundgebung des Volkswillens vertreten. Jedoch Volksvertreter im technischen Sinne des Wortes sind die Reichs- und Landtagsmitglieder nicht; denn ein Vertreter ist als solcher gebunden durch die Weisungen seines Auf¬ traggebers. Das ist aber bei jenen nicht der Fall: „Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und sind an Auftrüge und Instruktionen nicht gebunden" (Art. 83 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat) — „Die Abgeordneten haben eine Instruktion von ihren Kommittenten nicht anzunehmen, sondern nur ihrer eignen Überzeugmig zu folgen" K 81 Absatz 1 Satz 2 der Verfasstmgs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/26>, abgerufen am 29.04.2024.