Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Luftreisen

Nun spielten sich ungefähr die gleichen Szenen ab wie bei unsrer ersten
Landung in Rußland, doch vermißten wir die herzliche Freundlichkeit, mit der
uns damals die Landleute von Ncndziny aufgenommen hatten, und ihre auf¬
merksame Geschicklichkeit beim Verpacken. Polnische Juden fanden sich auch
jetzt sofort wieder ein als willkommne Dolmetscher und Geldwechsler. Ein
deutschsprechender Gutsbesitzer erzählte uns, daß mehrere Frauen, als sie den
Ballon aus den Wolken niedergehn sahen, mit dem Rufe "Die Jungfrau
Maria!" in die Knie gesunken wären. Von den Männern kamen einige den
"Preußen" anfangs etwas unwirsch entgegen, wurden aber sofort höflicher,
als sie erfuhren, daß wir Sachsen seien.

Ein Leiterwagen brachte uns und unsern "Ernst" in vierstündiger Fahrt
auf guter, aber sehr harter Straße über Zekow nach dem anmutig an drei
Armen der Prosna liegenden Kalisch. Da bei den so häufigen Westwinden
schon im voraus mit einer Landung in Rußland gerechnet werden mußte,
hatte der Führer aufs Geratewohl seinen Paß von der russischen Gesandtschaft
in Dresden visieren lassen. Infolgedessen machte die Gendarmerie ihm nicht
die geringsten Schwierigkeiten, nur den Doktor wollte man zurückbehalten,
schließlich wurde aber auch er als unentbehrlicher "Gehilfe" des Führers über
die Grenze gelassen, die wir gegen Abend bei Skalmierzyce erreichten.
Dr. Weißwange hatte übrigens noch bis Dienstag Nachmittag vier Uhr in
Dresden seine Sprechstunde gehalten, Donnerstag früh acht Uhr konnte er
sie schon wieder aufnehmen. Dazwischen lag außer der Reise nach Bitterfeld
eine Ballonfahrt nach Rußland, die Zurücklegung von 25 Werst auf einem
Leiterwagen und eine Nacht im Schnellzuge. Mehr läßt sich in vierzig Stunden
kaum erleben.


2. An die Ostseeküste.

Gott sei Dank, endlich einmal kein Westwind!
Es kam ganz, wie es Dr. Kurt Wegener, Meteorolog des Physikalischen Vereins
in Frankfurt, in einem mir nach Bitterfeld gesandten Telegramm vorausgesagt
hatte: "Richtung bei längerer Fahrt nach Norden bis Osten. Bewölkung
günstig, höchstens Gewitter." Leider ließ uns der große "Bezold" am
5./6. August eine noch schmerzlichere Enttäuschung erfahren als sechs Tage
vorher der kleine "Ernst". Bei seinem Umfang und drei Korbinsassen mit
einem Gesamtgewicht von 210 Kilo hätte er mindestens vierzig Sack Ballast
aufnehmen sollen, infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände gewann er
nur mit vierzehn Sack Auftrieb. Eine der Ursachen war die Hitze des Tages,
die das Gas schon während der Füllung sehr ausgedehnt hatte, und der
Ballon war von einem Bade im Haff, das er kurz zuvor bei einer Fahrt
von Berlin aus genommen hatte, noch nicht wieder ganz trocken.

Nachts ein Uhr führe" wir, der Führer und zwei Meißner Ballon¬
neulinge, der eine von ihnen ein junger Ehemann im sechsten Monat, mit
gutem Südwind ab. Eine schwüle Nacht, 20 Grad Celsius und darüber,
Mücken und Fliegen trotz schneller Bewegung des Ballons, auf allen Seiten


Luftreisen

Nun spielten sich ungefähr die gleichen Szenen ab wie bei unsrer ersten
Landung in Rußland, doch vermißten wir die herzliche Freundlichkeit, mit der
uns damals die Landleute von Ncndziny aufgenommen hatten, und ihre auf¬
merksame Geschicklichkeit beim Verpacken. Polnische Juden fanden sich auch
jetzt sofort wieder ein als willkommne Dolmetscher und Geldwechsler. Ein
deutschsprechender Gutsbesitzer erzählte uns, daß mehrere Frauen, als sie den
Ballon aus den Wolken niedergehn sahen, mit dem Rufe „Die Jungfrau
Maria!" in die Knie gesunken wären. Von den Männern kamen einige den
„Preußen" anfangs etwas unwirsch entgegen, wurden aber sofort höflicher,
als sie erfuhren, daß wir Sachsen seien.

Ein Leiterwagen brachte uns und unsern „Ernst" in vierstündiger Fahrt
auf guter, aber sehr harter Straße über Zekow nach dem anmutig an drei
Armen der Prosna liegenden Kalisch. Da bei den so häufigen Westwinden
schon im voraus mit einer Landung in Rußland gerechnet werden mußte,
hatte der Führer aufs Geratewohl seinen Paß von der russischen Gesandtschaft
in Dresden visieren lassen. Infolgedessen machte die Gendarmerie ihm nicht
die geringsten Schwierigkeiten, nur den Doktor wollte man zurückbehalten,
schließlich wurde aber auch er als unentbehrlicher „Gehilfe" des Führers über
die Grenze gelassen, die wir gegen Abend bei Skalmierzyce erreichten.
Dr. Weißwange hatte übrigens noch bis Dienstag Nachmittag vier Uhr in
Dresden seine Sprechstunde gehalten, Donnerstag früh acht Uhr konnte er
sie schon wieder aufnehmen. Dazwischen lag außer der Reise nach Bitterfeld
eine Ballonfahrt nach Rußland, die Zurücklegung von 25 Werst auf einem
Leiterwagen und eine Nacht im Schnellzuge. Mehr läßt sich in vierzig Stunden
kaum erleben.


2. An die Ostseeküste.

Gott sei Dank, endlich einmal kein Westwind!
Es kam ganz, wie es Dr. Kurt Wegener, Meteorolog des Physikalischen Vereins
in Frankfurt, in einem mir nach Bitterfeld gesandten Telegramm vorausgesagt
hatte: „Richtung bei längerer Fahrt nach Norden bis Osten. Bewölkung
günstig, höchstens Gewitter." Leider ließ uns der große „Bezold" am
5./6. August eine noch schmerzlichere Enttäuschung erfahren als sechs Tage
vorher der kleine „Ernst". Bei seinem Umfang und drei Korbinsassen mit
einem Gesamtgewicht von 210 Kilo hätte er mindestens vierzig Sack Ballast
aufnehmen sollen, infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände gewann er
nur mit vierzehn Sack Auftrieb. Eine der Ursachen war die Hitze des Tages,
die das Gas schon während der Füllung sehr ausgedehnt hatte, und der
Ballon war von einem Bade im Haff, das er kurz zuvor bei einer Fahrt
von Berlin aus genommen hatte, noch nicht wieder ganz trocken.

Nachts ein Uhr führe» wir, der Führer und zwei Meißner Ballon¬
neulinge, der eine von ihnen ein junger Ehemann im sechsten Monat, mit
gutem Südwind ab. Eine schwüle Nacht, 20 Grad Celsius und darüber,
Mücken und Fliegen trotz schneller Bewegung des Ballons, auf allen Seiten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303618"/>
            <fw type="header" place="top"> Luftreisen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_787"> Nun spielten sich ungefähr die gleichen Szenen ab wie bei unsrer ersten<lb/>
Landung in Rußland, doch vermißten wir die herzliche Freundlichkeit, mit der<lb/>
uns damals die Landleute von Ncndziny aufgenommen hatten, und ihre auf¬<lb/>
merksame Geschicklichkeit beim Verpacken. Polnische Juden fanden sich auch<lb/>
jetzt sofort wieder ein als willkommne Dolmetscher und Geldwechsler. Ein<lb/>
deutschsprechender Gutsbesitzer erzählte uns, daß mehrere Frauen, als sie den<lb/>
Ballon aus den Wolken niedergehn sahen, mit dem Rufe &#x201E;Die Jungfrau<lb/>
Maria!" in die Knie gesunken wären. Von den Männern kamen einige den<lb/>
&#x201E;Preußen" anfangs etwas unwirsch entgegen, wurden aber sofort höflicher,<lb/>
als sie erfuhren, daß wir Sachsen seien.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_788"> Ein Leiterwagen brachte uns und unsern &#x201E;Ernst" in vierstündiger Fahrt<lb/>
auf guter, aber sehr harter Straße über Zekow nach dem anmutig an drei<lb/>
Armen der Prosna liegenden Kalisch. Da bei den so häufigen Westwinden<lb/>
schon im voraus mit einer Landung in Rußland gerechnet werden mußte,<lb/>
hatte der Führer aufs Geratewohl seinen Paß von der russischen Gesandtschaft<lb/>
in Dresden visieren lassen. Infolgedessen machte die Gendarmerie ihm nicht<lb/>
die geringsten Schwierigkeiten, nur den Doktor wollte man zurückbehalten,<lb/>
schließlich wurde aber auch er als unentbehrlicher &#x201E;Gehilfe" des Führers über<lb/>
die Grenze gelassen, die wir gegen Abend bei Skalmierzyce erreichten.<lb/>
Dr. Weißwange hatte übrigens noch bis Dienstag Nachmittag vier Uhr in<lb/>
Dresden seine Sprechstunde gehalten, Donnerstag früh acht Uhr konnte er<lb/>
sie schon wieder aufnehmen. Dazwischen lag außer der Reise nach Bitterfeld<lb/>
eine Ballonfahrt nach Rußland, die Zurücklegung von 25 Werst auf einem<lb/>
Leiterwagen und eine Nacht im Schnellzuge. Mehr läßt sich in vierzig Stunden<lb/>
kaum erleben.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 2. An die Ostseeküste.</head>
            <p xml:id="ID_789"> Gott sei Dank, endlich einmal kein Westwind!<lb/>
Es kam ganz, wie es Dr. Kurt Wegener, Meteorolog des Physikalischen Vereins<lb/>
in Frankfurt, in einem mir nach Bitterfeld gesandten Telegramm vorausgesagt<lb/>
hatte: &#x201E;Richtung bei längerer Fahrt nach Norden bis Osten. Bewölkung<lb/>
günstig, höchstens Gewitter." Leider ließ uns der große &#x201E;Bezold" am<lb/>
5./6. August eine noch schmerzlichere Enttäuschung erfahren als sechs Tage<lb/>
vorher der kleine &#x201E;Ernst". Bei seinem Umfang und drei Korbinsassen mit<lb/>
einem Gesamtgewicht von 210 Kilo hätte er mindestens vierzig Sack Ballast<lb/>
aufnehmen sollen, infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände gewann er<lb/>
nur mit vierzehn Sack Auftrieb. Eine der Ursachen war die Hitze des Tages,<lb/>
die das Gas schon während der Füllung sehr ausgedehnt hatte, und der<lb/>
Ballon war von einem Bade im Haff, das er kurz zuvor bei einer Fahrt<lb/>
von Berlin aus genommen hatte, noch nicht wieder ganz trocken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_790" next="#ID_791"> Nachts ein Uhr führe» wir, der Führer und zwei Meißner Ballon¬<lb/>
neulinge, der eine von ihnen ein junger Ehemann im sechsten Monat, mit<lb/>
gutem Südwind ab. Eine schwüle Nacht, 20 Grad Celsius und darüber,<lb/>
Mücken und Fliegen trotz schneller Bewegung des Ballons, auf allen Seiten</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0202] Luftreisen Nun spielten sich ungefähr die gleichen Szenen ab wie bei unsrer ersten Landung in Rußland, doch vermißten wir die herzliche Freundlichkeit, mit der uns damals die Landleute von Ncndziny aufgenommen hatten, und ihre auf¬ merksame Geschicklichkeit beim Verpacken. Polnische Juden fanden sich auch jetzt sofort wieder ein als willkommne Dolmetscher und Geldwechsler. Ein deutschsprechender Gutsbesitzer erzählte uns, daß mehrere Frauen, als sie den Ballon aus den Wolken niedergehn sahen, mit dem Rufe „Die Jungfrau Maria!" in die Knie gesunken wären. Von den Männern kamen einige den „Preußen" anfangs etwas unwirsch entgegen, wurden aber sofort höflicher, als sie erfuhren, daß wir Sachsen seien. Ein Leiterwagen brachte uns und unsern „Ernst" in vierstündiger Fahrt auf guter, aber sehr harter Straße über Zekow nach dem anmutig an drei Armen der Prosna liegenden Kalisch. Da bei den so häufigen Westwinden schon im voraus mit einer Landung in Rußland gerechnet werden mußte, hatte der Führer aufs Geratewohl seinen Paß von der russischen Gesandtschaft in Dresden visieren lassen. Infolgedessen machte die Gendarmerie ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, nur den Doktor wollte man zurückbehalten, schließlich wurde aber auch er als unentbehrlicher „Gehilfe" des Führers über die Grenze gelassen, die wir gegen Abend bei Skalmierzyce erreichten. Dr. Weißwange hatte übrigens noch bis Dienstag Nachmittag vier Uhr in Dresden seine Sprechstunde gehalten, Donnerstag früh acht Uhr konnte er sie schon wieder aufnehmen. Dazwischen lag außer der Reise nach Bitterfeld eine Ballonfahrt nach Rußland, die Zurücklegung von 25 Werst auf einem Leiterwagen und eine Nacht im Schnellzuge. Mehr läßt sich in vierzig Stunden kaum erleben. 2. An die Ostseeküste. Gott sei Dank, endlich einmal kein Westwind! Es kam ganz, wie es Dr. Kurt Wegener, Meteorolog des Physikalischen Vereins in Frankfurt, in einem mir nach Bitterfeld gesandten Telegramm vorausgesagt hatte: „Richtung bei längerer Fahrt nach Norden bis Osten. Bewölkung günstig, höchstens Gewitter." Leider ließ uns der große „Bezold" am 5./6. August eine noch schmerzlichere Enttäuschung erfahren als sechs Tage vorher der kleine „Ernst". Bei seinem Umfang und drei Korbinsassen mit einem Gesamtgewicht von 210 Kilo hätte er mindestens vierzig Sack Ballast aufnehmen sollen, infolge einer Verkettung ungünstiger Umstände gewann er nur mit vierzehn Sack Auftrieb. Eine der Ursachen war die Hitze des Tages, die das Gas schon während der Füllung sehr ausgedehnt hatte, und der Ballon war von einem Bade im Haff, das er kurz zuvor bei einer Fahrt von Berlin aus genommen hatte, noch nicht wieder ganz trocken. Nachts ein Uhr führe» wir, der Führer und zwei Meißner Ballon¬ neulinge, der eine von ihnen ein junger Ehemann im sechsten Monat, mit gutem Südwind ab. Eine schwüle Nacht, 20 Grad Celsius und darüber, Mücken und Fliegen trotz schneller Bewegung des Ballons, auf allen Seiten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/202
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/202>, abgerufen am 26.05.2024.