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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

er es unternehmen wollte, das Heer der Strafgefangnen zu mustern,
das gegenwärtig die Staatsgefüngnisfe bevölkert, würde zu der
Einsicht kommen, daß es nur verschwindend wenige gibt, die einer
augenblicklichen Not, einem einmaligen Fehlen zum Opfer gefallen
sind. Eine große Menge ist durch Leichtsinn in der Jugend von
Stufe zu Stufe hinabgesunken, aber die größte Zahl kann ihren sittlichen Ver¬
fall noch viel weiter zurückrechnen. Der Kern des größten Übels liegt an der
Wurzel -- in der Kindheit, und deshalb darf man nicht dem Individuum für
seine Entwicklung zum Verbrecher das volle Maß der Schuld allein zumessen.
Da, wo der Erdenlauf begann, im Elternhause, in der Kinderstube wurde schon
durch das schlechte Beispiel der Keim gelegt, der sich unter schlimmen sozialen
Verhältnissen entwickelte, bis endlich der Typus des Gewohnheitsverbrechers
entstand.

Der Ruf nach Sicherung der Gesellschaft und nach Besserung des Delin¬
quenten dringt heute durch die Welt, und es gibt Wohl kein Staatswesen, das
sich mit diesen außerordentlich brennenden Fragen nicht gebührend beschäftigte.
Wir stehen im Reich vor einer Neugestaltung der Strafgesetzgebung und vor
einer Reform unsers Gefängniswesens, und deshalb haben wir allen Anlaß,
nach Kräften mitzuwirken, daß uns Bestimmungen gebracht werden, die der All¬
gemeinheit frommen, die die Gesellschaft sichern gegen solche Glieder, die sie
mit Mord und Totschlag, mit Raub und Unzucht, mit Falschheit und Gewinn¬
sucht bedrohen; aber auch Bestimmungen, die diese schädlichen Glieder womöglich
heilt und bessert. Sicherung und Besserung sind innig miteinander verbundne
Begriffe. Es gibt keine vollkommnere Sicherung, als die Besserung der Ver¬
brecher. Wollen wir die Verbrechen, alle die vielen Schlechtigkeiten und Ar¬
kaden, die begangen werden, verhindern, so müssen wir noch mehr bessernde
Hand anlegen an die Wurzel des Übels, an die Jugenderziehung. Könnten
wir die Sünden, die im Versteck der elterlichen Gewalt in den Winkeln der
Hütten und Häuser in Stadt und Land an Kindern begangen werden, aufdecken,
ans Tageslicht ziehen und heilen, so würde die Zahl solcher Menschen, die der
Verbrechen fähig sind, sicher abnehmen. Es ist zur Bewahrung und Besserung
der Jugend bei uns schon mancherlei geschehen. Die letzten Jahre haben
uns Verordnungen gebracht, die sich schon jetzt als segensreich erwiesen haben.




Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

er es unternehmen wollte, das Heer der Strafgefangnen zu mustern,
das gegenwärtig die Staatsgefüngnisfe bevölkert, würde zu der
Einsicht kommen, daß es nur verschwindend wenige gibt, die einer
augenblicklichen Not, einem einmaligen Fehlen zum Opfer gefallen
sind. Eine große Menge ist durch Leichtsinn in der Jugend von
Stufe zu Stufe hinabgesunken, aber die größte Zahl kann ihren sittlichen Ver¬
fall noch viel weiter zurückrechnen. Der Kern des größten Übels liegt an der
Wurzel — in der Kindheit, und deshalb darf man nicht dem Individuum für
seine Entwicklung zum Verbrecher das volle Maß der Schuld allein zumessen.
Da, wo der Erdenlauf begann, im Elternhause, in der Kinderstube wurde schon
durch das schlechte Beispiel der Keim gelegt, der sich unter schlimmen sozialen
Verhältnissen entwickelte, bis endlich der Typus des Gewohnheitsverbrechers
entstand.

Der Ruf nach Sicherung der Gesellschaft und nach Besserung des Delin¬
quenten dringt heute durch die Welt, und es gibt Wohl kein Staatswesen, das
sich mit diesen außerordentlich brennenden Fragen nicht gebührend beschäftigte.
Wir stehen im Reich vor einer Neugestaltung der Strafgesetzgebung und vor
einer Reform unsers Gefängniswesens, und deshalb haben wir allen Anlaß,
nach Kräften mitzuwirken, daß uns Bestimmungen gebracht werden, die der All¬
gemeinheit frommen, die die Gesellschaft sichern gegen solche Glieder, die sie
mit Mord und Totschlag, mit Raub und Unzucht, mit Falschheit und Gewinn¬
sucht bedrohen; aber auch Bestimmungen, die diese schädlichen Glieder womöglich
heilt und bessert. Sicherung und Besserung sind innig miteinander verbundne
Begriffe. Es gibt keine vollkommnere Sicherung, als die Besserung der Ver¬
brecher. Wollen wir die Verbrechen, alle die vielen Schlechtigkeiten und Ar¬
kaden, die begangen werden, verhindern, so müssen wir noch mehr bessernde
Hand anlegen an die Wurzel des Übels, an die Jugenderziehung. Könnten
wir die Sünden, die im Versteck der elterlichen Gewalt in den Winkeln der
Hütten und Häuser in Stadt und Land an Kindern begangen werden, aufdecken,
ans Tageslicht ziehen und heilen, so würde die Zahl solcher Menschen, die der
Verbrechen fähig sind, sicher abnehmen. Es ist zur Bewahrung und Besserung
der Jugend bei uns schon mancherlei geschehen. Die letzten Jahre haben
uns Verordnungen gebracht, die sich schon jetzt als segensreich erwiesen haben.


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[0240] [Abbildung] Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform er es unternehmen wollte, das Heer der Strafgefangnen zu mustern, das gegenwärtig die Staatsgefüngnisfe bevölkert, würde zu der Einsicht kommen, daß es nur verschwindend wenige gibt, die einer augenblicklichen Not, einem einmaligen Fehlen zum Opfer gefallen sind. Eine große Menge ist durch Leichtsinn in der Jugend von Stufe zu Stufe hinabgesunken, aber die größte Zahl kann ihren sittlichen Ver¬ fall noch viel weiter zurückrechnen. Der Kern des größten Übels liegt an der Wurzel — in der Kindheit, und deshalb darf man nicht dem Individuum für seine Entwicklung zum Verbrecher das volle Maß der Schuld allein zumessen. Da, wo der Erdenlauf begann, im Elternhause, in der Kinderstube wurde schon durch das schlechte Beispiel der Keim gelegt, der sich unter schlimmen sozialen Verhältnissen entwickelte, bis endlich der Typus des Gewohnheitsverbrechers entstand. Der Ruf nach Sicherung der Gesellschaft und nach Besserung des Delin¬ quenten dringt heute durch die Welt, und es gibt Wohl kein Staatswesen, das sich mit diesen außerordentlich brennenden Fragen nicht gebührend beschäftigte. Wir stehen im Reich vor einer Neugestaltung der Strafgesetzgebung und vor einer Reform unsers Gefängniswesens, und deshalb haben wir allen Anlaß, nach Kräften mitzuwirken, daß uns Bestimmungen gebracht werden, die der All¬ gemeinheit frommen, die die Gesellschaft sichern gegen solche Glieder, die sie mit Mord und Totschlag, mit Raub und Unzucht, mit Falschheit und Gewinn¬ sucht bedrohen; aber auch Bestimmungen, die diese schädlichen Glieder womöglich heilt und bessert. Sicherung und Besserung sind innig miteinander verbundne Begriffe. Es gibt keine vollkommnere Sicherung, als die Besserung der Ver¬ brecher. Wollen wir die Verbrechen, alle die vielen Schlechtigkeiten und Ar¬ kaden, die begangen werden, verhindern, so müssen wir noch mehr bessernde Hand anlegen an die Wurzel des Übels, an die Jugenderziehung. Könnten wir die Sünden, die im Versteck der elterlichen Gewalt in den Winkeln der Hütten und Häuser in Stadt und Land an Kindern begangen werden, aufdecken, ans Tageslicht ziehen und heilen, so würde die Zahl solcher Menschen, die der Verbrechen fähig sind, sicher abnehmen. Es ist zur Bewahrung und Besserung der Jugend bei uns schon mancherlei geschehen. Die letzten Jahre haben uns Verordnungen gebracht, die sich schon jetzt als segensreich erwiesen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/240>, abgerufen am 26.05.2024.