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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Handelstätigkeit hervorgebracht, sie haben ein kräftiges, nur allzu stürmisches
Verfassungsleben entfaltet, sie haben drei originelle Baustile geschaffen, und
lange vor der Renaissance haben die unbekannten Schöpfer der in letzter Zeit
aufgedeckten Wandmalereien der Reichenauer Kirchen, haben viele Skulpturen
an mittelalterlichen Domen, die lebenswahren Gesichter auf Giottos Bildern be¬
wiesen, daß die Völker durch das Christentum ihre Schöpferkraft nicht einge¬
büßt hatten; was alles zeigt, daß die Renaissance nur die längst begonnene
Entfaltung dieser Schöpferkraft beschleunigt, nicht die angeblich ertötete wieder¬
belebt hat. Den ungeheuern Reichtum an Tatsachen, der das beweist, ver¬
schweigt de Meray; vielleicht kennt er ihn gar nicht. Die von ihm angeführten
Tatsachen, die das Gegenteil beweisen sollen: asketische Verirrungen, Menschen¬
schlächtereien und andre Greueltaten, die der religiöse Fanatismus verübt hat,
können leider nicht in Abrede gestellt werden (wobei jedoch zu bemerken ist,
daß sich das schlimmste erst in und nach der Renaissance ereignet hat). Darin
liegt eine ernste Mahnung an die Leiter der Kirchen: wenn man das Christen¬
tum mit einer der historisch gewordnen Kirchen identifiziert, die Orthodoxie für
seine allein berechtigte Form erklärt, dann ist eine Apologie des Christentums
Carl I-meses Nicht Möglich.




sozialpsychologische (Lindrücke aus deutschen
Großstädten
Or. Rarl Dieterich von

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iW^^W! rotz einzelner kleinen Rückständigkeiten zeigt Leipzig gerade in der
praktischen Organisierung des Verkehrswesens Vorzüge, die vielen
andern Großstädten fehlen. Man muß hier das Modernste wieder
im Zusammenhang mit dem Historischen betrachten. Wenn man
I bedenkt, daß Leipzig schon 1655 eine Zeitung hatte, die erste
in Deutschland (die noch jetzt bestehende Leipziger Zeitung), ferner schon
1701 Straßenbeleuchtung, 1705 ein Adreßbuch hatte, daß die Leipzig-
Dresdner Bahn die Zweitälteste in Deutschland ist (das erste Stück wurde
1337 eröffnet), daß schon 1838 Gasbeleuchtung eingeführt und das noch heute
imponierende Hauptpostamt erbaut wurde, und daß es als eine der ersten
deutschen Städte elektrische Straßenbahnen einführte (1896), so wundert
man sich nicht, daß es auch in der Vervollkommnung der dem Verkehr
dienenden Maßregeln obenan steht. Es sei nur hingewiesen auf die höchst
sinnreiche und zweckmäßige Vorrichtung, wodurch an Straßenkreuzungen Zu-


sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Handelstätigkeit hervorgebracht, sie haben ein kräftiges, nur allzu stürmisches
Verfassungsleben entfaltet, sie haben drei originelle Baustile geschaffen, und
lange vor der Renaissance haben die unbekannten Schöpfer der in letzter Zeit
aufgedeckten Wandmalereien der Reichenauer Kirchen, haben viele Skulpturen
an mittelalterlichen Domen, die lebenswahren Gesichter auf Giottos Bildern be¬
wiesen, daß die Völker durch das Christentum ihre Schöpferkraft nicht einge¬
büßt hatten; was alles zeigt, daß die Renaissance nur die längst begonnene
Entfaltung dieser Schöpferkraft beschleunigt, nicht die angeblich ertötete wieder¬
belebt hat. Den ungeheuern Reichtum an Tatsachen, der das beweist, ver¬
schweigt de Meray; vielleicht kennt er ihn gar nicht. Die von ihm angeführten
Tatsachen, die das Gegenteil beweisen sollen: asketische Verirrungen, Menschen¬
schlächtereien und andre Greueltaten, die der religiöse Fanatismus verübt hat,
können leider nicht in Abrede gestellt werden (wobei jedoch zu bemerken ist,
daß sich das schlimmste erst in und nach der Renaissance ereignet hat). Darin
liegt eine ernste Mahnung an die Leiter der Kirchen: wenn man das Christen¬
tum mit einer der historisch gewordnen Kirchen identifiziert, die Orthodoxie für
seine allein berechtigte Form erklärt, dann ist eine Apologie des Christentums
Carl I-meses Nicht Möglich.




sozialpsychologische (Lindrücke aus deutschen
Großstädten
Or. Rarl Dieterich von

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iW^^W! rotz einzelner kleinen Rückständigkeiten zeigt Leipzig gerade in der
praktischen Organisierung des Verkehrswesens Vorzüge, die vielen
andern Großstädten fehlen. Man muß hier das Modernste wieder
im Zusammenhang mit dem Historischen betrachten. Wenn man
I bedenkt, daß Leipzig schon 1655 eine Zeitung hatte, die erste
in Deutschland (die noch jetzt bestehende Leipziger Zeitung), ferner schon
1701 Straßenbeleuchtung, 1705 ein Adreßbuch hatte, daß die Leipzig-
Dresdner Bahn die Zweitälteste in Deutschland ist (das erste Stück wurde
1337 eröffnet), daß schon 1838 Gasbeleuchtung eingeführt und das noch heute
imponierende Hauptpostamt erbaut wurde, und daß es als eine der ersten
deutschen Städte elektrische Straßenbahnen einführte (1896), so wundert
man sich nicht, daß es auch in der Vervollkommnung der dem Verkehr
dienenden Maßregeln obenan steht. Es sei nur hingewiesen auf die höchst
sinnreiche und zweckmäßige Vorrichtung, wodurch an Straßenkreuzungen Zu-


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[0256] sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten Handelstätigkeit hervorgebracht, sie haben ein kräftiges, nur allzu stürmisches Verfassungsleben entfaltet, sie haben drei originelle Baustile geschaffen, und lange vor der Renaissance haben die unbekannten Schöpfer der in letzter Zeit aufgedeckten Wandmalereien der Reichenauer Kirchen, haben viele Skulpturen an mittelalterlichen Domen, die lebenswahren Gesichter auf Giottos Bildern be¬ wiesen, daß die Völker durch das Christentum ihre Schöpferkraft nicht einge¬ büßt hatten; was alles zeigt, daß die Renaissance nur die längst begonnene Entfaltung dieser Schöpferkraft beschleunigt, nicht die angeblich ertötete wieder¬ belebt hat. Den ungeheuern Reichtum an Tatsachen, der das beweist, ver¬ schweigt de Meray; vielleicht kennt er ihn gar nicht. Die von ihm angeführten Tatsachen, die das Gegenteil beweisen sollen: asketische Verirrungen, Menschen¬ schlächtereien und andre Greueltaten, die der religiöse Fanatismus verübt hat, können leider nicht in Abrede gestellt werden (wobei jedoch zu bemerken ist, daß sich das schlimmste erst in und nach der Renaissance ereignet hat). Darin liegt eine ernste Mahnung an die Leiter der Kirchen: wenn man das Christen¬ tum mit einer der historisch gewordnen Kirchen identifiziert, die Orthodoxie für seine allein berechtigte Form erklärt, dann ist eine Apologie des Christentums Carl I-meses Nicht Möglich. sozialpsychologische (Lindrücke aus deutschen Großstädten Or. Rarl Dieterich von V^AffF^I iW^^W! rotz einzelner kleinen Rückständigkeiten zeigt Leipzig gerade in der praktischen Organisierung des Verkehrswesens Vorzüge, die vielen andern Großstädten fehlen. Man muß hier das Modernste wieder im Zusammenhang mit dem Historischen betrachten. Wenn man I bedenkt, daß Leipzig schon 1655 eine Zeitung hatte, die erste in Deutschland (die noch jetzt bestehende Leipziger Zeitung), ferner schon 1701 Straßenbeleuchtung, 1705 ein Adreßbuch hatte, daß die Leipzig- Dresdner Bahn die Zweitälteste in Deutschland ist (das erste Stück wurde 1337 eröffnet), daß schon 1838 Gasbeleuchtung eingeführt und das noch heute imponierende Hauptpostamt erbaut wurde, und daß es als eine der ersten deutschen Städte elektrische Straßenbahnen einführte (1896), so wundert man sich nicht, daß es auch in der Vervollkommnung der dem Verkehr dienenden Maßregeln obenan steht. Es sei nur hingewiesen auf die höchst sinnreiche und zweckmäßige Vorrichtung, wodurch an Straßenkreuzungen Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/256>, abgerufen am 26.05.2024.