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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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von Abbazia bis zur Bocche von "Lattaro

neue Zeit nicht begriffen haben/' (Th. Fontane, Von zwanzig bis dreißig.
Berlin 1897.) Möge der soziale Geist, der noch in Leipzigs Mauern lebt, und
der uns nur darum englisch erschien, weil er in Deutschland so selten ist --
möge er auch in andern deutschen Großstädten eine Heimstätte finden und
so den Anschein, als sei Leipzig ein fremdes Stück Erde auf modernem
deutschen Boden, als trügerisch erweisen!




Von Abbazia bis zur Bocche von (Lattaro
A. Lingkc vonin

M-MNs war an einem wunderschönen Maientage, als wir wohlbehalten
in Wien eintrafen, um mit einer von hier ausgehenden Reise¬
gesellschaft einen dreiwöchigen Ausflug nach Dalmatien und
Montenegro zu unternehmen. Nachdem wir die alte Kaiserstadt
an der Donau einer kurzen Besichtigung unterzogen haben, führt
uns die Semmeringbcchn durch eine Fülle landschaftlicher Schön¬
heiten aus Österreich hinüber nach der grünen Steiermark, der Zug durcheilt die
Täter der Mur, der Drau und der Sau und tritt bei der Mündung der Sau in
die save nach Krain über, damit zugleich das rein deutsche Sprachgebiet ver¬
lassend, denn schon vor CM weicht die deutsche Zunge der slowenischen. Im
Sandale aufwärts fahrend erlauben uns die sich plötzlich zerteilenden Wolken
einen flüchtigen Blick auf die Julischen Alpen mit ihrem schneebedeckten Berg¬
könig, dem Triglciv. Angesichts seines eisumpcmzerten Hauptes eilen wir
immer mehr dem sonnigen Süden zu. Laibach, die Hauptstadt von Krain, und
das durch seine Pfahlbaufunde bekannte Laibacher Moor passieren wir im
Fluge; bei der Station Peles, wo die Bahn nach Trieft abzweigt, sind wir
schon mitten drin im öden Karstgebirge, einer unwirtbaren dürren Hochebene
mit einem Chaos von Felstrümmern bedeckt, hier und da von engen Schluchten
unterbrochen. Die Bora, der kräftige Nordoststurm, bläst immer und immer
wieder jedes Pflänzchen mitsamt dem Erdreich fort, nur das nackte Kalk¬
gestein zurücklassend, auf dem einst prächtige Wälder wuchsen. Bitter rächt
sich hier die Sorglosigkeit der Vorfahren, die Stamm um Stamm füllten,
ohne für neue Anpflanzungen zu sorgen, und so das Erdreich in alle Winde
tragen ließen. Was aber trotzdem hier und da an Grün noch hervorbrach,
an Strauch oder Gebüsch, wurde schon als Knospe flugs von der kletterlustigen
Ziege abgeknabbert, dem einzigen Nutzvieh der Karstbewohner, bis endlich die
Regierung strenge Gesetze erließ und sich selbst an das Aufforsten machte.
Allerdings war das ein sehr schwieriges und mühsames Unternehmen; man
mußte zunächst Harz auf den Stein kleben, darauf die Erde mit den Samen-
Pflänzchen legen und schließlich mehrere dieser Sämlinge wieder mit einer
starken, oben engern Holzverkleidung zum Schutze gegen die Bora umgeben.

Das Dampfroß eilt weiter den Karst abwärts, dem Adriatischen Meere
zu, und unser Auge vermag uoch so weit die eingetretne Dunkelheit zu durch¬
dringen, daß wir tief unter uns die spärlichen Lichter von Abbazia unter-


von Abbazia bis zur Bocche von «Lattaro

neue Zeit nicht begriffen haben/' (Th. Fontane, Von zwanzig bis dreißig.
Berlin 1897.) Möge der soziale Geist, der noch in Leipzigs Mauern lebt, und
der uns nur darum englisch erschien, weil er in Deutschland so selten ist —
möge er auch in andern deutschen Großstädten eine Heimstätte finden und
so den Anschein, als sei Leipzig ein fremdes Stück Erde auf modernem
deutschen Boden, als trügerisch erweisen!




Von Abbazia bis zur Bocche von (Lattaro
A. Lingkc vonin

M-MNs war an einem wunderschönen Maientage, als wir wohlbehalten
in Wien eintrafen, um mit einer von hier ausgehenden Reise¬
gesellschaft einen dreiwöchigen Ausflug nach Dalmatien und
Montenegro zu unternehmen. Nachdem wir die alte Kaiserstadt
an der Donau einer kurzen Besichtigung unterzogen haben, führt
uns die Semmeringbcchn durch eine Fülle landschaftlicher Schön¬
heiten aus Österreich hinüber nach der grünen Steiermark, der Zug durcheilt die
Täter der Mur, der Drau und der Sau und tritt bei der Mündung der Sau in
die save nach Krain über, damit zugleich das rein deutsche Sprachgebiet ver¬
lassend, denn schon vor CM weicht die deutsche Zunge der slowenischen. Im
Sandale aufwärts fahrend erlauben uns die sich plötzlich zerteilenden Wolken
einen flüchtigen Blick auf die Julischen Alpen mit ihrem schneebedeckten Berg¬
könig, dem Triglciv. Angesichts seines eisumpcmzerten Hauptes eilen wir
immer mehr dem sonnigen Süden zu. Laibach, die Hauptstadt von Krain, und
das durch seine Pfahlbaufunde bekannte Laibacher Moor passieren wir im
Fluge; bei der Station Peles, wo die Bahn nach Trieft abzweigt, sind wir
schon mitten drin im öden Karstgebirge, einer unwirtbaren dürren Hochebene
mit einem Chaos von Felstrümmern bedeckt, hier und da von engen Schluchten
unterbrochen. Die Bora, der kräftige Nordoststurm, bläst immer und immer
wieder jedes Pflänzchen mitsamt dem Erdreich fort, nur das nackte Kalk¬
gestein zurücklassend, auf dem einst prächtige Wälder wuchsen. Bitter rächt
sich hier die Sorglosigkeit der Vorfahren, die Stamm um Stamm füllten,
ohne für neue Anpflanzungen zu sorgen, und so das Erdreich in alle Winde
tragen ließen. Was aber trotzdem hier und da an Grün noch hervorbrach,
an Strauch oder Gebüsch, wurde schon als Knospe flugs von der kletterlustigen
Ziege abgeknabbert, dem einzigen Nutzvieh der Karstbewohner, bis endlich die
Regierung strenge Gesetze erließ und sich selbst an das Aufforsten machte.
Allerdings war das ein sehr schwieriges und mühsames Unternehmen; man
mußte zunächst Harz auf den Stein kleben, darauf die Erde mit den Samen-
Pflänzchen legen und schließlich mehrere dieser Sämlinge wieder mit einer
starken, oben engern Holzverkleidung zum Schutze gegen die Bora umgeben.

Das Dampfroß eilt weiter den Karst abwärts, dem Adriatischen Meere
zu, und unser Auge vermag uoch so weit die eingetretne Dunkelheit zu durch¬
dringen, daß wir tief unter uns die spärlichen Lichter von Abbazia unter-


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[0265] von Abbazia bis zur Bocche von «Lattaro neue Zeit nicht begriffen haben/' (Th. Fontane, Von zwanzig bis dreißig. Berlin 1897.) Möge der soziale Geist, der noch in Leipzigs Mauern lebt, und der uns nur darum englisch erschien, weil er in Deutschland so selten ist — möge er auch in andern deutschen Großstädten eine Heimstätte finden und so den Anschein, als sei Leipzig ein fremdes Stück Erde auf modernem deutschen Boden, als trügerisch erweisen! Von Abbazia bis zur Bocche von (Lattaro A. Lingkc vonin M-MNs war an einem wunderschönen Maientage, als wir wohlbehalten in Wien eintrafen, um mit einer von hier ausgehenden Reise¬ gesellschaft einen dreiwöchigen Ausflug nach Dalmatien und Montenegro zu unternehmen. Nachdem wir die alte Kaiserstadt an der Donau einer kurzen Besichtigung unterzogen haben, führt uns die Semmeringbcchn durch eine Fülle landschaftlicher Schön¬ heiten aus Österreich hinüber nach der grünen Steiermark, der Zug durcheilt die Täter der Mur, der Drau und der Sau und tritt bei der Mündung der Sau in die save nach Krain über, damit zugleich das rein deutsche Sprachgebiet ver¬ lassend, denn schon vor CM weicht die deutsche Zunge der slowenischen. Im Sandale aufwärts fahrend erlauben uns die sich plötzlich zerteilenden Wolken einen flüchtigen Blick auf die Julischen Alpen mit ihrem schneebedeckten Berg¬ könig, dem Triglciv. Angesichts seines eisumpcmzerten Hauptes eilen wir immer mehr dem sonnigen Süden zu. Laibach, die Hauptstadt von Krain, und das durch seine Pfahlbaufunde bekannte Laibacher Moor passieren wir im Fluge; bei der Station Peles, wo die Bahn nach Trieft abzweigt, sind wir schon mitten drin im öden Karstgebirge, einer unwirtbaren dürren Hochebene mit einem Chaos von Felstrümmern bedeckt, hier und da von engen Schluchten unterbrochen. Die Bora, der kräftige Nordoststurm, bläst immer und immer wieder jedes Pflänzchen mitsamt dem Erdreich fort, nur das nackte Kalk¬ gestein zurücklassend, auf dem einst prächtige Wälder wuchsen. Bitter rächt sich hier die Sorglosigkeit der Vorfahren, die Stamm um Stamm füllten, ohne für neue Anpflanzungen zu sorgen, und so das Erdreich in alle Winde tragen ließen. Was aber trotzdem hier und da an Grün noch hervorbrach, an Strauch oder Gebüsch, wurde schon als Knospe flugs von der kletterlustigen Ziege abgeknabbert, dem einzigen Nutzvieh der Karstbewohner, bis endlich die Regierung strenge Gesetze erließ und sich selbst an das Aufforsten machte. Allerdings war das ein sehr schwieriges und mühsames Unternehmen; man mußte zunächst Harz auf den Stein kleben, darauf die Erde mit den Samen- Pflänzchen legen und schließlich mehrere dieser Sämlinge wieder mit einer starken, oben engern Holzverkleidung zum Schutze gegen die Bora umgeben. Das Dampfroß eilt weiter den Karst abwärts, dem Adriatischen Meere zu, und unser Auge vermag uoch so weit die eingetretne Dunkelheit zu durch¬ dringen, daß wir tief unter uns die spärlichen Lichter von Abbazia unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/265>, abgerufen am 26.05.2024.