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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Mutterlieb, die Frau Bäckermeisterin hab ich gern! Wenn ich einmal in Not
sein werde, dann gehe ich zu der!

Hoffentlich wirst du niemals in Not kommen, Harald!

Man kanns nicht wissen, Mutter. Die Not kommt schnell; Lila sagts auch.
Sie sagt, kaum ist die eine Gouvernante aus dem Hause, dann kommt die andre
hinterdrein, und bei jeder gibts eine neue Rede von Tante Dolly.

Lila sollte sich recht Mühe mit dem Lernen geben, sagte ich. Als Kind habe
ich es gehaßt, wenn die Erwachsen solche weise Sätze zu mir sprachen; aber jetzt
greife auch ich zu diesem Mittel. Kinder verlangen eine kleine Dosis Moral, über
die sie nachdenken können.

Lila möchte auch wohl lernen; aber sie sagt, es ist mühsam. Und Mühe mag
sie sich nicht geben.

An uns vorüber zieht ein alter Gaul einen mit Steinen beladnen Karren bergan.
Der Treiber geht lässig nebenher, knallt mit der Peitsche und flucht.

Da legt mein Junge seine Kränze auf den Karren und schiebt hinterher, daß
er dem Pferd die Arbeit erleichtere. Es gelingt ihm nicht, die Ladung ist zu
schwer; aber der Treiber schämt sich plötzlich, ruft nicht mehr Hott und hüb. sondern
stemmt sich in die Räder. Und dabei lacht er und schlägt Harald ermunternd und
zufrieden auf den Rücken.

Wir standen nachher auf dem Kirchhof, legten die Kränze auf ihre Plätze und
sahen wieder in den Sonnenschein und auf die stillen Berge. Der alte müde Gaul
war seine Straße weitergezogen, und sein Treiber half ihm nach, aus der Ferne
konnten wir es sehn. Ich aber dachte, ob meine Eltern mich geliebt hätten, wie
ich meinen Knaben liebe. Wie entsetzlich schwer muß es ihnen geworden sein, ihr
Kind einsam zurückzulassen.

Ach, wir wissen nicht, wieviel Leid die Welt schon trug! Und wieviel sie
Wetter tragen muß!

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Die Ergebnisse von Reval. England und Rußland und die Westminster Gazette.
Die Deutsche Kolonialgesellschaft und der Deutsche Flottenverein.)

Zwischen König Eduard von England und Kaiser Nikolaus von Rußland sind
bei der Zusammenkunft in Reval Trinksprüche gewechselt worden, die in den Wein
der Kombinationspolitiker und Propheten des neuen Dreibunds viel Wasser geschüttet
haben. Zugleich hat auch die ernsthafte politische Presse der beiden nächstbeteiligten
Länder nach Möglichkeit das Ihrige getan, um zu versichern, daß die Zusammenkunft
von Reval der Erhaltung des Weltfriedens dienen solle und keine Spitze gegen
irgendeine dritte Macht kehre. In Rußland hat die Rossija besonders die Hetzereien
der russischen Presse gegen Deutschland scharf verurteilt, und in England hat sogar
die konservative Presse, die sonst uns gegenüber gern eine kühle und mißtrauische
Haltung bewahrt, mit bemerkenswerter Offenheit erklärt, es falle England gar nicht
ein, sich durch die allerdings wertvolle und hochgeschätzte Freundschaft mit Frankreich
in einen Krieg gegen Deutschland hineinsetzen zu lassen.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Mutterlieb, die Frau Bäckermeisterin hab ich gern! Wenn ich einmal in Not
sein werde, dann gehe ich zu der!

Hoffentlich wirst du niemals in Not kommen, Harald!

Man kanns nicht wissen, Mutter. Die Not kommt schnell; Lila sagts auch.
Sie sagt, kaum ist die eine Gouvernante aus dem Hause, dann kommt die andre
hinterdrein, und bei jeder gibts eine neue Rede von Tante Dolly.

Lila sollte sich recht Mühe mit dem Lernen geben, sagte ich. Als Kind habe
ich es gehaßt, wenn die Erwachsen solche weise Sätze zu mir sprachen; aber jetzt
greife auch ich zu diesem Mittel. Kinder verlangen eine kleine Dosis Moral, über
die sie nachdenken können.

Lila möchte auch wohl lernen; aber sie sagt, es ist mühsam. Und Mühe mag
sie sich nicht geben.

An uns vorüber zieht ein alter Gaul einen mit Steinen beladnen Karren bergan.
Der Treiber geht lässig nebenher, knallt mit der Peitsche und flucht.

Da legt mein Junge seine Kränze auf den Karren und schiebt hinterher, daß
er dem Pferd die Arbeit erleichtere. Es gelingt ihm nicht, die Ladung ist zu
schwer; aber der Treiber schämt sich plötzlich, ruft nicht mehr Hott und hüb. sondern
stemmt sich in die Räder. Und dabei lacht er und schlägt Harald ermunternd und
zufrieden auf den Rücken.

Wir standen nachher auf dem Kirchhof, legten die Kränze auf ihre Plätze und
sahen wieder in den Sonnenschein und auf die stillen Berge. Der alte müde Gaul
war seine Straße weitergezogen, und sein Treiber half ihm nach, aus der Ferne
konnten wir es sehn. Ich aber dachte, ob meine Eltern mich geliebt hätten, wie
ich meinen Knaben liebe. Wie entsetzlich schwer muß es ihnen geworden sein, ihr
Kind einsam zurückzulassen.

Ach, wir wissen nicht, wieviel Leid die Welt schon trug! Und wieviel sie
Wetter tragen muß!

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Die Ergebnisse von Reval. England und Rußland und die Westminster Gazette.
Die Deutsche Kolonialgesellschaft und der Deutsche Flottenverein.)

Zwischen König Eduard von England und Kaiser Nikolaus von Rußland sind
bei der Zusammenkunft in Reval Trinksprüche gewechselt worden, die in den Wein
der Kombinationspolitiker und Propheten des neuen Dreibunds viel Wasser geschüttet
haben. Zugleich hat auch die ernsthafte politische Presse der beiden nächstbeteiligten
Länder nach Möglichkeit das Ihrige getan, um zu versichern, daß die Zusammenkunft
von Reval der Erhaltung des Weltfriedens dienen solle und keine Spitze gegen
irgendeine dritte Macht kehre. In Rußland hat die Rossija besonders die Hetzereien
der russischen Presse gegen Deutschland scharf verurteilt, und in England hat sogar
die konservative Presse, die sonst uns gegenüber gern eine kühle und mißtrauische
Haltung bewahrt, mit bemerkenswerter Offenheit erklärt, es falle England gar nicht
ein, sich durch die allerdings wertvolle und hochgeschätzte Freundschaft mit Frankreich
in einen Krieg gegen Deutschland hineinsetzen zu lassen.


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[0591] Maßgebliches und Unmaßgebliches Mutterlieb, die Frau Bäckermeisterin hab ich gern! Wenn ich einmal in Not sein werde, dann gehe ich zu der! Hoffentlich wirst du niemals in Not kommen, Harald! Man kanns nicht wissen, Mutter. Die Not kommt schnell; Lila sagts auch. Sie sagt, kaum ist die eine Gouvernante aus dem Hause, dann kommt die andre hinterdrein, und bei jeder gibts eine neue Rede von Tante Dolly. Lila sollte sich recht Mühe mit dem Lernen geben, sagte ich. Als Kind habe ich es gehaßt, wenn die Erwachsen solche weise Sätze zu mir sprachen; aber jetzt greife auch ich zu diesem Mittel. Kinder verlangen eine kleine Dosis Moral, über die sie nachdenken können. Lila möchte auch wohl lernen; aber sie sagt, es ist mühsam. Und Mühe mag sie sich nicht geben. An uns vorüber zieht ein alter Gaul einen mit Steinen beladnen Karren bergan. Der Treiber geht lässig nebenher, knallt mit der Peitsche und flucht. Da legt mein Junge seine Kränze auf den Karren und schiebt hinterher, daß er dem Pferd die Arbeit erleichtere. Es gelingt ihm nicht, die Ladung ist zu schwer; aber der Treiber schämt sich plötzlich, ruft nicht mehr Hott und hüb. sondern stemmt sich in die Räder. Und dabei lacht er und schlägt Harald ermunternd und zufrieden auf den Rücken. Wir standen nachher auf dem Kirchhof, legten die Kränze auf ihre Plätze und sahen wieder in den Sonnenschein und auf die stillen Berge. Der alte müde Gaul war seine Straße weitergezogen, und sein Treiber half ihm nach, aus der Ferne konnten wir es sehn. Ich aber dachte, ob meine Eltern mich geliebt hätten, wie ich meinen Knaben liebe. Wie entsetzlich schwer muß es ihnen geworden sein, ihr Kind einsam zurückzulassen. Ach, wir wissen nicht, wieviel Leid die Welt schon trug! Und wieviel sie Wetter tragen muß! (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel (Die Ergebnisse von Reval. England und Rußland und die Westminster Gazette. Die Deutsche Kolonialgesellschaft und der Deutsche Flottenverein.) Zwischen König Eduard von England und Kaiser Nikolaus von Rußland sind bei der Zusammenkunft in Reval Trinksprüche gewechselt worden, die in den Wein der Kombinationspolitiker und Propheten des neuen Dreibunds viel Wasser geschüttet haben. Zugleich hat auch die ernsthafte politische Presse der beiden nächstbeteiligten Länder nach Möglichkeit das Ihrige getan, um zu versichern, daß die Zusammenkunft von Reval der Erhaltung des Weltfriedens dienen solle und keine Spitze gegen irgendeine dritte Macht kehre. In Rußland hat die Rossija besonders die Hetzereien der russischen Presse gegen Deutschland scharf verurteilt, und in England hat sogar die konservative Presse, die sonst uns gegenüber gern eine kühle und mißtrauische Haltung bewahrt, mit bemerkenswerter Offenheit erklärt, es falle England gar nicht ein, sich durch die allerdings wertvolle und hochgeschätzte Freundschaft mit Frankreich in einen Krieg gegen Deutschland hineinsetzen zu lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/591>, abgerufen am 01.05.2024.