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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Lin neuer Gibbon

Öffentlichkeit erzognes Volk überhaupt nicht zu knechten; es hat immer Führer,
ist immer organisiert, es kämpft drei Menschenalter und unterliegt nicht -- siehe
den Kampf der Niederlande --> dreimal besiegt, bildet es die öffentliche Gewalt
immer wieder von neuem selbst. ^ ' .-

Ein einzelner kann seine kleine persönliche Freiheit wohl auch von. einem
Tyrannen in Empfang nehmen als Belohnung für sein unpolitisches Dasein;
aber ein Volk als Ganzes findet seine Freiheit nur bei seiner ureigner immer
neu erlesnen, in der Öffentlichkeit immer neu erprobten Aristokratie. Jede reine
Demokratie hat einen klaren starken Willen nur in seltnen Augenblicken. Für
gewöhnlich wird sie regiert, wo sie zu regieren meint. Und wenn sie wirklich
politisch zu leben versucht, wird sie nach kurzem Spektakel von irgendeinem
Tyrannen überwunden. Das ist die Geschichte aller Revolutionen. Ein Volk,
das sich wirklich selbst verwalten will, muß sich eine Aristokratie schaffen. Das
geschieht durch Dauerauslese der freiesten, vornehmsten Willenskräfte in der
Öffentlichkeit des politischen Lebens. Diese Auslese hat schon bei. den Wählern
anzufangen. Darum heißt die Losung : Hier geheime Wahl, Demokratie, Despo¬
tismus; hier öffentliche Wahl, Aristokratie und Freiheit. Nun, deutsches Volk,
wähle, aber denke daran, daß alle germanische Kultur bisher eine aristokratische
Kultur auf der möglichst breiten Basis der Gemeinfreiheit gewesen ist. Die
Zukunft gehört dem Volke, das in der kommenden atomisierenden demokratischen
Kultur am längsten seine politische Gesundheit, d. i. eine aristokratische Or¬
ganisation behält.




Gin neuer Gibbon

iebuhr und Mommsen haben die Grundlagen der römischen
Geschichte für alle Zeiten gemauert (mancher behauptet freilich,
sie bröckelten schon ab); aber im Auf- und Ausbau bleibt noch
genug zu tun übrig: Lösung von Zweifeln, Ersatz älterer
Hypothesen durch neue, befriedigendere (denn die Geschichts¬
forschung ist von dem Zwange zur Verwendung von Hypothesen so wenig
ausgenommen wie irgendeine andre Wissenschaft), Berichtigung kleiner Irr¬
tümer. Außerdem eröffnen neue Erfahrungen, so besonders die volkswirtschaft¬
lichen und sozialen unsrer Zeit, von denen Mommsen erst im spätern -Alter
einen Teil erlebt hat, auch neue Einblicke in die Zustände. und Umwälzungen
früherer Zeiten. Und endlich müssen doch die alten Geschichten jedem neuen
Geschlecht aufs neue erzählt werden, und Mommsens monumentales Wert ist
überhaupt kein Lesebuch für das Volk. In allen diesen Beziehungen befriedigt
das-Werk, das Lombrosos Schwiegersohn, der Soziologe Guglielmo Ferrero


Lin neuer Gibbon

Öffentlichkeit erzognes Volk überhaupt nicht zu knechten; es hat immer Führer,
ist immer organisiert, es kämpft drei Menschenalter und unterliegt nicht — siehe
den Kampf der Niederlande —> dreimal besiegt, bildet es die öffentliche Gewalt
immer wieder von neuem selbst. ^ ' .-

Ein einzelner kann seine kleine persönliche Freiheit wohl auch von. einem
Tyrannen in Empfang nehmen als Belohnung für sein unpolitisches Dasein;
aber ein Volk als Ganzes findet seine Freiheit nur bei seiner ureigner immer
neu erlesnen, in der Öffentlichkeit immer neu erprobten Aristokratie. Jede reine
Demokratie hat einen klaren starken Willen nur in seltnen Augenblicken. Für
gewöhnlich wird sie regiert, wo sie zu regieren meint. Und wenn sie wirklich
politisch zu leben versucht, wird sie nach kurzem Spektakel von irgendeinem
Tyrannen überwunden. Das ist die Geschichte aller Revolutionen. Ein Volk,
das sich wirklich selbst verwalten will, muß sich eine Aristokratie schaffen. Das
geschieht durch Dauerauslese der freiesten, vornehmsten Willenskräfte in der
Öffentlichkeit des politischen Lebens. Diese Auslese hat schon bei. den Wählern
anzufangen. Darum heißt die Losung : Hier geheime Wahl, Demokratie, Despo¬
tismus; hier öffentliche Wahl, Aristokratie und Freiheit. Nun, deutsches Volk,
wähle, aber denke daran, daß alle germanische Kultur bisher eine aristokratische
Kultur auf der möglichst breiten Basis der Gemeinfreiheit gewesen ist. Die
Zukunft gehört dem Volke, das in der kommenden atomisierenden demokratischen
Kultur am längsten seine politische Gesundheit, d. i. eine aristokratische Or¬
ganisation behält.




Gin neuer Gibbon

iebuhr und Mommsen haben die Grundlagen der römischen
Geschichte für alle Zeiten gemauert (mancher behauptet freilich,
sie bröckelten schon ab); aber im Auf- und Ausbau bleibt noch
genug zu tun übrig: Lösung von Zweifeln, Ersatz älterer
Hypothesen durch neue, befriedigendere (denn die Geschichts¬
forschung ist von dem Zwange zur Verwendung von Hypothesen so wenig
ausgenommen wie irgendeine andre Wissenschaft), Berichtigung kleiner Irr¬
tümer. Außerdem eröffnen neue Erfahrungen, so besonders die volkswirtschaft¬
lichen und sozialen unsrer Zeit, von denen Mommsen erst im spätern -Alter
einen Teil erlebt hat, auch neue Einblicke in die Zustände. und Umwälzungen
früherer Zeiten. Und endlich müssen doch die alten Geschichten jedem neuen
Geschlecht aufs neue erzählt werden, und Mommsens monumentales Wert ist
überhaupt kein Lesebuch für das Volk. In allen diesen Beziehungen befriedigt
das-Werk, das Lombrosos Schwiegersohn, der Soziologe Guglielmo Ferrero


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[0079] Lin neuer Gibbon Öffentlichkeit erzognes Volk überhaupt nicht zu knechten; es hat immer Führer, ist immer organisiert, es kämpft drei Menschenalter und unterliegt nicht — siehe den Kampf der Niederlande —> dreimal besiegt, bildet es die öffentliche Gewalt immer wieder von neuem selbst. ^ ' .- Ein einzelner kann seine kleine persönliche Freiheit wohl auch von. einem Tyrannen in Empfang nehmen als Belohnung für sein unpolitisches Dasein; aber ein Volk als Ganzes findet seine Freiheit nur bei seiner ureigner immer neu erlesnen, in der Öffentlichkeit immer neu erprobten Aristokratie. Jede reine Demokratie hat einen klaren starken Willen nur in seltnen Augenblicken. Für gewöhnlich wird sie regiert, wo sie zu regieren meint. Und wenn sie wirklich politisch zu leben versucht, wird sie nach kurzem Spektakel von irgendeinem Tyrannen überwunden. Das ist die Geschichte aller Revolutionen. Ein Volk, das sich wirklich selbst verwalten will, muß sich eine Aristokratie schaffen. Das geschieht durch Dauerauslese der freiesten, vornehmsten Willenskräfte in der Öffentlichkeit des politischen Lebens. Diese Auslese hat schon bei. den Wählern anzufangen. Darum heißt die Losung : Hier geheime Wahl, Demokratie, Despo¬ tismus; hier öffentliche Wahl, Aristokratie und Freiheit. Nun, deutsches Volk, wähle, aber denke daran, daß alle germanische Kultur bisher eine aristokratische Kultur auf der möglichst breiten Basis der Gemeinfreiheit gewesen ist. Die Zukunft gehört dem Volke, das in der kommenden atomisierenden demokratischen Kultur am längsten seine politische Gesundheit, d. i. eine aristokratische Or¬ ganisation behält. Gin neuer Gibbon iebuhr und Mommsen haben die Grundlagen der römischen Geschichte für alle Zeiten gemauert (mancher behauptet freilich, sie bröckelten schon ab); aber im Auf- und Ausbau bleibt noch genug zu tun übrig: Lösung von Zweifeln, Ersatz älterer Hypothesen durch neue, befriedigendere (denn die Geschichts¬ forschung ist von dem Zwange zur Verwendung von Hypothesen so wenig ausgenommen wie irgendeine andre Wissenschaft), Berichtigung kleiner Irr¬ tümer. Außerdem eröffnen neue Erfahrungen, so besonders die volkswirtschaft¬ lichen und sozialen unsrer Zeit, von denen Mommsen erst im spätern -Alter einen Teil erlebt hat, auch neue Einblicke in die Zustände. und Umwälzungen früherer Zeiten. Und endlich müssen doch die alten Geschichten jedem neuen Geschlecht aufs neue erzählt werden, und Mommsens monumentales Wert ist überhaupt kein Lesebuch für das Volk. In allen diesen Beziehungen befriedigt das-Werk, das Lombrosos Schwiegersohn, der Soziologe Guglielmo Ferrero

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/79>, abgerufen am 01.05.2024.