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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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unternommen hat, und von dem die ersten beiden Bände in autorisierter Über¬
setzung von Max Pannwitz (bei Julius Hoffmann in Stuttgart) erschienen sind:
Größe und Niedergang Roms (erster Band: Wie Rom Weltreich wurde;
zweiter Band: Julius Cäsar). Wie die Leser schon aus dem Titel schließen
können, hat sich der Autor nicht Mommsens, sondern Gibbons Aufgabe gesollt,
doch deckt sich der von ihm behandelte Zeitraum auch mit dem des berühmten
veolm" Ana IÄ1 nicht ganz. Dessen Verfasser beginnt mit Augustus und den
Antonium und erzählt bis zur Eroberung Konstantinopels, auch die letzten
Regungen des römischen Republikanergeistes im Mittelalter und seine endgiltige
Bändigung durch die Päpste mit einschließend, Ferrero nimmt das Ende des
hannibalischen Krieges zum Ausgangspunkt, fertigt die Zeit bis zu den
gracchischen Unruhen summarisch ab, stellt von da an die Ereignisse ausführlich
dar und wird wahrscheinlich mit dem Untergange des weströmischen Reiches
schließen, denn sein Werk ist nur auf sechs Bände berechnet (es sind Bände
kleinen Formats von durchschnittlich 400 Seiten), während Gibbon bis zu dem
genannten Zeitpunkte fünf, für das übrige sieben ungefähr ebensolche Bände
gebraucht hat.

Die neuen Konjekturen, Auffassungen und Hypothesen Ferreros werden
die Fachzeitschriften kritisieren. Den Durchschnittsleser fesselt außer der an¬
genehmen Erzählung besonders die Beleuchtung der politischen, sozialen, ethischen
und ökonomischen Zustände und Bewegungen vom Standpunkte des modernen
Beurteilers aus. Man spürt den Herzschlag und die Sorge des italienischen
Patrioten in dem warmen Preise der altrömischen Bauerntugend, jener wirklich
guten alten Zeit, wo Italien von Rom aus nicht bloß mit dem Schwerte,
sondern auf die einzige, dauernden Erfolg versprechende Weise, mit dem Pfluge
erobert wurde, wo "Genie, Wahnsinn und Verbrechen, kurz alles, was nicht
in den Rahmen der Überlieferung paßte, nach Möglichkeit ausgeschaltet wurde;
Formalismus, Empirismus und roher Aberglaube den Inbegriff aller Weisheit
zu bilden" schienen. "VKil Rom es fertig brachte, barbarisch zu sein ohne die
Laster der Barbarei, darum überwand es so viele gebildetere, aber durch die
Laster ihrer eignen Kultur geschwächte Völker. Die alte römische Gesellschaft
läßt sich mit gewissen Mönchsorden vergleichen, bei denen in äußerst sinnreicher
Weise Lehre, Beispiel, gegenseitige Kontrolle und Furcht zusammenwirken." So
ist es zu erklären, daß im zweiten Punischen Kriege Rom den Sieg davon¬
trug; "die Tugenden einer Reihe spießbürgerlicher Geschlechter triumphierten
über die geniale Größe eines einzelnen." Die Hauptursache von Hannibals
Unterliegen wird wohl gewesen sein, daß das Unternehmen von vornherein
aussichtslos war; nur eben ein Genie konnte es fertig bringen, sich fünfzehn
Jahre lang mit einem kleinen Heere, ohne natürlichen Stützpunkt, ohne stete
Verbindung mit der Heimat, in einem feindlichen, politisch und militärisch gut
organisierten Lande zu halten. Daß Rom nach diesem Siege und den damit
verketteten gewaltigen Erfolgen in Spanien und Afrika "mit einem guten Teil


<Lin neuer Gibbon

unternommen hat, und von dem die ersten beiden Bände in autorisierter Über¬
setzung von Max Pannwitz (bei Julius Hoffmann in Stuttgart) erschienen sind:
Größe und Niedergang Roms (erster Band: Wie Rom Weltreich wurde;
zweiter Band: Julius Cäsar). Wie die Leser schon aus dem Titel schließen
können, hat sich der Autor nicht Mommsens, sondern Gibbons Aufgabe gesollt,
doch deckt sich der von ihm behandelte Zeitraum auch mit dem des berühmten
veolm« Ana IÄ1 nicht ganz. Dessen Verfasser beginnt mit Augustus und den
Antonium und erzählt bis zur Eroberung Konstantinopels, auch die letzten
Regungen des römischen Republikanergeistes im Mittelalter und seine endgiltige
Bändigung durch die Päpste mit einschließend, Ferrero nimmt das Ende des
hannibalischen Krieges zum Ausgangspunkt, fertigt die Zeit bis zu den
gracchischen Unruhen summarisch ab, stellt von da an die Ereignisse ausführlich
dar und wird wahrscheinlich mit dem Untergange des weströmischen Reiches
schließen, denn sein Werk ist nur auf sechs Bände berechnet (es sind Bände
kleinen Formats von durchschnittlich 400 Seiten), während Gibbon bis zu dem
genannten Zeitpunkte fünf, für das übrige sieben ungefähr ebensolche Bände
gebraucht hat.

Die neuen Konjekturen, Auffassungen und Hypothesen Ferreros werden
die Fachzeitschriften kritisieren. Den Durchschnittsleser fesselt außer der an¬
genehmen Erzählung besonders die Beleuchtung der politischen, sozialen, ethischen
und ökonomischen Zustände und Bewegungen vom Standpunkte des modernen
Beurteilers aus. Man spürt den Herzschlag und die Sorge des italienischen
Patrioten in dem warmen Preise der altrömischen Bauerntugend, jener wirklich
guten alten Zeit, wo Italien von Rom aus nicht bloß mit dem Schwerte,
sondern auf die einzige, dauernden Erfolg versprechende Weise, mit dem Pfluge
erobert wurde, wo „Genie, Wahnsinn und Verbrechen, kurz alles, was nicht
in den Rahmen der Überlieferung paßte, nach Möglichkeit ausgeschaltet wurde;
Formalismus, Empirismus und roher Aberglaube den Inbegriff aller Weisheit
zu bilden" schienen. „VKil Rom es fertig brachte, barbarisch zu sein ohne die
Laster der Barbarei, darum überwand es so viele gebildetere, aber durch die
Laster ihrer eignen Kultur geschwächte Völker. Die alte römische Gesellschaft
läßt sich mit gewissen Mönchsorden vergleichen, bei denen in äußerst sinnreicher
Weise Lehre, Beispiel, gegenseitige Kontrolle und Furcht zusammenwirken." So
ist es zu erklären, daß im zweiten Punischen Kriege Rom den Sieg davon¬
trug; „die Tugenden einer Reihe spießbürgerlicher Geschlechter triumphierten
über die geniale Größe eines einzelnen." Die Hauptursache von Hannibals
Unterliegen wird wohl gewesen sein, daß das Unternehmen von vornherein
aussichtslos war; nur eben ein Genie konnte es fertig bringen, sich fünfzehn
Jahre lang mit einem kleinen Heere, ohne natürlichen Stützpunkt, ohne stete
Verbindung mit der Heimat, in einem feindlichen, politisch und militärisch gut
organisierten Lande zu halten. Daß Rom nach diesem Siege und den damit
verketteten gewaltigen Erfolgen in Spanien und Afrika „mit einem guten Teil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/80>, abgerufen am 15.05.2024.