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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Johann Friedrich von Schuttes kebenserinnernngcn

die Generalstände aufsetzten oder sich doch gegenseitig mitteilten. Weit seltner
war ein Einvernehmen zwischen Klerus und Tiers und ganz selten ein solches
zwischen den beiden ersten Ständen ohne den Tiers. Dagegen herrschten gerade
in Paris die schroffsten Gegensätze zwischen den drei Ständen, und das war
verhängnisvoll genug. Das schließliche Ergebnis der Wahlen sah überhaupt
recht bedenklich aus: im ersten Stande überwogen die Landpfarrer; im zweiten
bildeten die Radikalen eine erkleckliche Anzahl; im dritten saßen neben einigen
bedeutenden Männern wie Mirabeau sehr viele Verfasser von Hetzbroschüren
und sonstige Agitatoren. Die Wähler gaben damals ihren Vertretern die schon
erwähnten Cahiers mit, Denkschriften, in denen sie ihre Beschwerden und
Forderungen formulierten. Man findet in ihnen den "Geist" vertreten, wie er
sich in Frankreich namentlich in den Jahren 1788 und 1789 entwickelt hatte.
Diese Andeutung mag hier genügen, im übrigen aber muß auf das epoche¬
machende Werk von E. Champion, 1,3. Kranes ä'aprös los eadiors ac 1789,
verwiesen werden. Man staunt über die Übereinstimmung der Grundgedanken,
die sich in den Cahiers aller drei Stände vorfinden, und doch nutzte das Ent¬
gegenkommen der Privilegierten dem dritten Stande gegenüber nichts: dieser
steigerte nur seine Begehrlichkeit binnen wenigen Monaten bis zur Raserei
und zur Vernichtung der beiden ersten Stunde, begünstigt durch die Rat- und
Wehrlosigkeit der überdies in sich gespaltnen Regierung und durch die Un¬
fähigkeit und Verblendung des leitenden Ministers.

So wurde denn das alte Frankreich mit seinen guten und seinen schlechten
Eigenschaften von Grund aus niedergerissen und ein neues errichtet, dem aber
die Fundamente so sehr fehlten, daß es schon 1793 in sich zusammenstürzte und
sich erst aus unendlichen Strömen von Blut durch Schaffung einer furchtbaren
Zentralgewalt wieder erheben konnte. Wie anders ging dann der Freiherr vom
Stein mit seinem Neubau des preußischen Staates vor, indem er den Unter¬
tanen die Freiheit schenkte, damit sie den Staat nicht schwachem, sondern erst
recht stärkten! _




Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen
von Carl Ieiltsch 1

n der letzten vorjährigen Nummer ist über die (bei Emil Noth
in Gießen erschienenen) Lebenserinnerungen des Organisators der
Altkatholikengemeinschaft, des Professors Dr. Joh. Friedrich
v. Schulte, berichtet worden. Als zweiten und dritten Band dieser
Erinnerungen schickt er ihnen eine Sammlung von Zeitungsartikeln
und Essays politischen, kirchenpolitischen, sozialen, historischen und biographischen
Inhalts nach. Manches davon hat nur seinerzeit, als es aktuell war, Bedeutung


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die Generalstände aufsetzten oder sich doch gegenseitig mitteilten. Weit seltner
war ein Einvernehmen zwischen Klerus und Tiers und ganz selten ein solches
zwischen den beiden ersten Ständen ohne den Tiers. Dagegen herrschten gerade
in Paris die schroffsten Gegensätze zwischen den drei Ständen, und das war
verhängnisvoll genug. Das schließliche Ergebnis der Wahlen sah überhaupt
recht bedenklich aus: im ersten Stande überwogen die Landpfarrer; im zweiten
bildeten die Radikalen eine erkleckliche Anzahl; im dritten saßen neben einigen
bedeutenden Männern wie Mirabeau sehr viele Verfasser von Hetzbroschüren
und sonstige Agitatoren. Die Wähler gaben damals ihren Vertretern die schon
erwähnten Cahiers mit, Denkschriften, in denen sie ihre Beschwerden und
Forderungen formulierten. Man findet in ihnen den „Geist" vertreten, wie er
sich in Frankreich namentlich in den Jahren 1788 und 1789 entwickelt hatte.
Diese Andeutung mag hier genügen, im übrigen aber muß auf das epoche¬
machende Werk von E. Champion, 1,3. Kranes ä'aprös los eadiors ac 1789,
verwiesen werden. Man staunt über die Übereinstimmung der Grundgedanken,
die sich in den Cahiers aller drei Stände vorfinden, und doch nutzte das Ent¬
gegenkommen der Privilegierten dem dritten Stande gegenüber nichts: dieser
steigerte nur seine Begehrlichkeit binnen wenigen Monaten bis zur Raserei
und zur Vernichtung der beiden ersten Stunde, begünstigt durch die Rat- und
Wehrlosigkeit der überdies in sich gespaltnen Regierung und durch die Un¬
fähigkeit und Verblendung des leitenden Ministers.

So wurde denn das alte Frankreich mit seinen guten und seinen schlechten
Eigenschaften von Grund aus niedergerissen und ein neues errichtet, dem aber
die Fundamente so sehr fehlten, daß es schon 1793 in sich zusammenstürzte und
sich erst aus unendlichen Strömen von Blut durch Schaffung einer furchtbaren
Zentralgewalt wieder erheben konnte. Wie anders ging dann der Freiherr vom
Stein mit seinem Neubau des preußischen Staates vor, indem er den Unter¬
tanen die Freiheit schenkte, damit sie den Staat nicht schwachem, sondern erst
recht stärkten! _




Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen
von Carl Ieiltsch 1

n der letzten vorjährigen Nummer ist über die (bei Emil Noth
in Gießen erschienenen) Lebenserinnerungen des Organisators der
Altkatholikengemeinschaft, des Professors Dr. Joh. Friedrich
v. Schulte, berichtet worden. Als zweiten und dritten Band dieser
Erinnerungen schickt er ihnen eine Sammlung von Zeitungsartikeln
und Essays politischen, kirchenpolitischen, sozialen, historischen und biographischen
Inhalts nach. Manches davon hat nur seinerzeit, als es aktuell war, Bedeutung


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[0318] Johann Friedrich von Schuttes kebenserinnernngcn die Generalstände aufsetzten oder sich doch gegenseitig mitteilten. Weit seltner war ein Einvernehmen zwischen Klerus und Tiers und ganz selten ein solches zwischen den beiden ersten Ständen ohne den Tiers. Dagegen herrschten gerade in Paris die schroffsten Gegensätze zwischen den drei Ständen, und das war verhängnisvoll genug. Das schließliche Ergebnis der Wahlen sah überhaupt recht bedenklich aus: im ersten Stande überwogen die Landpfarrer; im zweiten bildeten die Radikalen eine erkleckliche Anzahl; im dritten saßen neben einigen bedeutenden Männern wie Mirabeau sehr viele Verfasser von Hetzbroschüren und sonstige Agitatoren. Die Wähler gaben damals ihren Vertretern die schon erwähnten Cahiers mit, Denkschriften, in denen sie ihre Beschwerden und Forderungen formulierten. Man findet in ihnen den „Geist" vertreten, wie er sich in Frankreich namentlich in den Jahren 1788 und 1789 entwickelt hatte. Diese Andeutung mag hier genügen, im übrigen aber muß auf das epoche¬ machende Werk von E. Champion, 1,3. Kranes ä'aprös los eadiors ac 1789, verwiesen werden. Man staunt über die Übereinstimmung der Grundgedanken, die sich in den Cahiers aller drei Stände vorfinden, und doch nutzte das Ent¬ gegenkommen der Privilegierten dem dritten Stande gegenüber nichts: dieser steigerte nur seine Begehrlichkeit binnen wenigen Monaten bis zur Raserei und zur Vernichtung der beiden ersten Stunde, begünstigt durch die Rat- und Wehrlosigkeit der überdies in sich gespaltnen Regierung und durch die Un¬ fähigkeit und Verblendung des leitenden Ministers. So wurde denn das alte Frankreich mit seinen guten und seinen schlechten Eigenschaften von Grund aus niedergerissen und ein neues errichtet, dem aber die Fundamente so sehr fehlten, daß es schon 1793 in sich zusammenstürzte und sich erst aus unendlichen Strömen von Blut durch Schaffung einer furchtbaren Zentralgewalt wieder erheben konnte. Wie anders ging dann der Freiherr vom Stein mit seinem Neubau des preußischen Staates vor, indem er den Unter¬ tanen die Freiheit schenkte, damit sie den Staat nicht schwachem, sondern erst recht stärkten! _ Johann Friedrich von Schuttes Lebenserinnerungen von Carl Ieiltsch 1 n der letzten vorjährigen Nummer ist über die (bei Emil Noth in Gießen erschienenen) Lebenserinnerungen des Organisators der Altkatholikengemeinschaft, des Professors Dr. Joh. Friedrich v. Schulte, berichtet worden. Als zweiten und dritten Band dieser Erinnerungen schickt er ihnen eine Sammlung von Zeitungsartikeln und Essays politischen, kirchenpolitischen, sozialen, historischen und biographischen Inhalts nach. Manches davon hat nur seinerzeit, als es aktuell war, Bedeutung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/318>, abgerufen am 28.04.2024.