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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend und die Religion
von Ludwig Germers hei IN
2. Bleichwangig an? Main

Agenten sollten einem Kinde nie oder nur von Menschen erzählt
werden, die so hold erzählen können wie Moritz von Schwind, Hans
Thoma und Hermann Vogel. Denn viel mächtiger als das Märchen
wirkt die Legende ans das Gemüt des Kindes.

Märchenkatastrophen sind unblutig und so frei von Grauen wie
> die Katastrophen in Wilhelm Buschs Dichtungen. Im Märchen können
Hexen das Messer wetzen, um gefangne Kinder zu schlachten, Wölfe können ihre
kleinen Begleiterinnen, Menschenfresser ihre kleinen Gäste verschlingen, das alles geht
ohne Blut und Qual und Grauen ab und hinterläßt keine schmerzende Spur in der
Seele. Die Geschichte von Ritter Blaubart ist kein Märchen, sondern der düstere
Nachhall der sadistischen Verbrechen eines Mitstreiters der Jungfrau von Orleans,
des Ritters Gilles de Rais auf Machecoul und Tiffanges. Sowenig man einem
bilderdurstigen Kinde den Gifttrank dieser Geschichte reicht, so wenig sollte man
ihm Legenden erzählen, wenn man nicht beim Erzählen Blutlachen zu Rosen und
Geißeln zu blühenden Dornranken machen kann. Denn aus diesen Schilderungen
grausamen Mordens und heldenmütigen Sterbens schleicht das Grauen in die Seele
des Kindes und macht sie krank. Ich habe es an mir selbst erfahren.

Als meine Augen in der Stadt, die vom zweiten Volksschuljahre bis zum
Abgang von der Hochschule der Schauplatz meiner Jugend war, helle Bilder suchen
gingen, fanden sie keine Weide. Die Landschaft sprach mich nicht freundlich an.
Ich vermißte den heitern, freien Strom meiner Kindheit; der Fluß, der hier
zwischen Kaimauern und Kirchen, Häuserreihen und Hügeln dahinzog, erschien mir
trüb und düster. Die von Mauern und Treppen durchzognen, von Pfählen
starrenden Rebenhügel nehmen mir den Blick in die blaue Ferne, an den ich mich
in der weiten Landschaft meiner Kindheit gewöhnt hatte. Die neue Welt war mir
zu wenig grün und weiß und blau. Daß ich diese Farben so oft zur Charakteristik
meiner Kindheit am Rhein verwende, erscheint vielleicht gesucht. Ich habe mich
selbst schon oft gefragt, ob mir nicht jüngere Farbeneindrücke das Kolorit meiner
Kindheit fälschen. Ich glaube nicht. Diese Farbenerinnerungen sind echt. Wenn
ein Heller Frühlingstag über frisch erwachten: Wiesen- und Waldgrün leuchtet und
sich das Blau des Himmels auf dem Flusse wiegt und durch alle Wiesengräben
rinnt, dann muß ich an meine erste Jugend denken. So blau, so grün waren
die ersten sechs Jahre meines Lebens. Und so oft ich selbst den Blick auf diese
Jahre richte, füllen sich die dürftigen Konturen, die mir vou der Landschaft und
von dem Leben meiner Kindheit im Gedächtnis geblieben sind, mit jenen frischen,
freudigen' Farben. Das formen- und gestaltenreiche Bild, das meine Seele von
meiner spätern Jugend bewahrt, hat andre Farben.




Meine Jugend und die Religion
von Ludwig Germers hei IN
2. Bleichwangig an? Main

Agenten sollten einem Kinde nie oder nur von Menschen erzählt
werden, die so hold erzählen können wie Moritz von Schwind, Hans
Thoma und Hermann Vogel. Denn viel mächtiger als das Märchen
wirkt die Legende ans das Gemüt des Kindes.

Märchenkatastrophen sind unblutig und so frei von Grauen wie
> die Katastrophen in Wilhelm Buschs Dichtungen. Im Märchen können
Hexen das Messer wetzen, um gefangne Kinder zu schlachten, Wölfe können ihre
kleinen Begleiterinnen, Menschenfresser ihre kleinen Gäste verschlingen, das alles geht
ohne Blut und Qual und Grauen ab und hinterläßt keine schmerzende Spur in der
Seele. Die Geschichte von Ritter Blaubart ist kein Märchen, sondern der düstere
Nachhall der sadistischen Verbrechen eines Mitstreiters der Jungfrau von Orleans,
des Ritters Gilles de Rais auf Machecoul und Tiffanges. Sowenig man einem
bilderdurstigen Kinde den Gifttrank dieser Geschichte reicht, so wenig sollte man
ihm Legenden erzählen, wenn man nicht beim Erzählen Blutlachen zu Rosen und
Geißeln zu blühenden Dornranken machen kann. Denn aus diesen Schilderungen
grausamen Mordens und heldenmütigen Sterbens schleicht das Grauen in die Seele
des Kindes und macht sie krank. Ich habe es an mir selbst erfahren.

Als meine Augen in der Stadt, die vom zweiten Volksschuljahre bis zum
Abgang von der Hochschule der Schauplatz meiner Jugend war, helle Bilder suchen
gingen, fanden sie keine Weide. Die Landschaft sprach mich nicht freundlich an.
Ich vermißte den heitern, freien Strom meiner Kindheit; der Fluß, der hier
zwischen Kaimauern und Kirchen, Häuserreihen und Hügeln dahinzog, erschien mir
trüb und düster. Die von Mauern und Treppen durchzognen, von Pfählen
starrenden Rebenhügel nehmen mir den Blick in die blaue Ferne, an den ich mich
in der weiten Landschaft meiner Kindheit gewöhnt hatte. Die neue Welt war mir
zu wenig grün und weiß und blau. Daß ich diese Farben so oft zur Charakteristik
meiner Kindheit am Rhein verwende, erscheint vielleicht gesucht. Ich habe mich
selbst schon oft gefragt, ob mir nicht jüngere Farbeneindrücke das Kolorit meiner
Kindheit fälschen. Ich glaube nicht. Diese Farbenerinnerungen sind echt. Wenn
ein Heller Frühlingstag über frisch erwachten: Wiesen- und Waldgrün leuchtet und
sich das Blau des Himmels auf dem Flusse wiegt und durch alle Wiesengräben
rinnt, dann muß ich an meine erste Jugend denken. So blau, so grün waren
die ersten sechs Jahre meines Lebens. Und so oft ich selbst den Blick auf diese
Jahre richte, füllen sich die dürftigen Konturen, die mir vou der Landschaft und
von dem Leben meiner Kindheit im Gedächtnis geblieben sind, mit jenen frischen,
freudigen' Farben. Das formen- und gestaltenreiche Bild, das meine Seele von
meiner spätern Jugend bewahrt, hat andre Farben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/92>, abgerufen am 28.04.2024.