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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der Selbstmord, seine Zunahme und die Präventivmittel

ihr Recht fordern und die Reichsinteressen so unerschrocken, so kraftvoll und
siegreich verfechten, wie die Privatinteressen dies stets verstanden haben. Bis
auf seine natürlichen Grenzen erweitert verspricht das Reichserbrecht gemäß
früherer Veranschlagung (Ur. 43 der "Grenzboten") außerordentlich hohe Erträge.
Eine Vorlage dieses Inhalts ist des allgemeinen Beifalls sicher. Wenn nicht
alles täuscht, so ist die Bevölkerung der unfruchtbaren Parteikämpfe herzlich
müde; sie wird aufatmen und mit Freude eine positive Ausgabe begrüßen, die
auf dem gemeinsamen Boden der idealen und materiellen Interessen ein hohes
Ziel verfolgt, im eigentlichsten Sinne ein Werk der Versöhnung.




Der Selbstmord,
seine Zunahme und die Präventivmittel
Dr. F. Schilling von Ureisxhysikus a, D,

MMM
WM^M'indes offenbart in so greller Weise die psychische Disharmonie eines
unglücklichen Menschen als der Selbstmord, jener Gewaltakt, der
alle natürlichen Bande vorsätzlich zerreißt, jener tragische Konflikt,
der sich zur Anklage gegen die Kultur und die menschlichen In¬
stitutionen richtet, da scheinbar mit den Fortschritten der Kultur
auch unablässig die Häufigkeit der Selbstmorde steigt.

Das Selbstmordproblem ist mit vielen Fragen verknüpft, die noch zum
Teil der Lösung harren. Ob der Selbstmord unbedingt ein Verbrechen, eine
Tat des Mutes oder der Feigheit oder ein Akt der Verzweiflung sei, der anstatt
der Verachtung Mitleid und Entschuldigung verdiene, darin weichen die Urteile
der Geistlichen, Juristen, Philosophen und Arzte wesentlich voneinander ab. Der
Geistliche verurteilt die irreligiöse Handlungsweise und verweigert die Einsegnung der
Leiche. Im Gesetze Moses heißt es, du sollst nicht töten, der Mord ist ebenso
wie der Selbstmord ein Verbrechen. Fichte und Kant erklären ihn für unsittlich,
weil ein Selbstmörder sich aller Pflichterfüllung entzieht; schon Plato stellte die
Menschen auf einen höheren Wachtposten, von dem sich niemand ablösen dürfe.
Schopenhauer nennt es eine sinnlose Phrase, wenn man behaupte, der Selbst¬
mord sei ein Unrecht. Nach materialistischer Ansicht darf der Mensch das Leben
von sich werfen, wenn es wertlos ist. Mit Milde sieht der Psychiater auf jenen
Unglücklichen herab, der in Seelenqualen und wohl gar geistiger Umnachtung
in den Tod ging. Unter den Dichtern verstößt Dante die Selbstmörder in die
Hölle, während Dramatiker wie Shakespeare, Schiller, Goethe und G. Hauptmann
den Selbstmord als tragischen Ausgang verherrlichen. Goethe, der selbst einst,
beherrscht von Zweifeln an der Zukunft und Vorwürfen über die Vergangenheit,
an Selbstmordneigung litt, erklärt in "Aus meinem Leben" den Selbstmord für
ein Ereignis der menschlichen Natur, das jeden Menschen zur Teilnahme fordert.
Tolstoi spricht dem Menschen das Recht sich zu töten zwar zu, hält die Tat


Der Selbstmord, seine Zunahme und die Präventivmittel

ihr Recht fordern und die Reichsinteressen so unerschrocken, so kraftvoll und
siegreich verfechten, wie die Privatinteressen dies stets verstanden haben. Bis
auf seine natürlichen Grenzen erweitert verspricht das Reichserbrecht gemäß
früherer Veranschlagung (Ur. 43 der „Grenzboten") außerordentlich hohe Erträge.
Eine Vorlage dieses Inhalts ist des allgemeinen Beifalls sicher. Wenn nicht
alles täuscht, so ist die Bevölkerung der unfruchtbaren Parteikämpfe herzlich
müde; sie wird aufatmen und mit Freude eine positive Ausgabe begrüßen, die
auf dem gemeinsamen Boden der idealen und materiellen Interessen ein hohes
Ziel verfolgt, im eigentlichsten Sinne ein Werk der Versöhnung.




Der Selbstmord,
seine Zunahme und die Präventivmittel
Dr. F. Schilling von Ureisxhysikus a, D,

MMM
WM^M'indes offenbart in so greller Weise die psychische Disharmonie eines
unglücklichen Menschen als der Selbstmord, jener Gewaltakt, der
alle natürlichen Bande vorsätzlich zerreißt, jener tragische Konflikt,
der sich zur Anklage gegen die Kultur und die menschlichen In¬
stitutionen richtet, da scheinbar mit den Fortschritten der Kultur
auch unablässig die Häufigkeit der Selbstmorde steigt.

Das Selbstmordproblem ist mit vielen Fragen verknüpft, die noch zum
Teil der Lösung harren. Ob der Selbstmord unbedingt ein Verbrechen, eine
Tat des Mutes oder der Feigheit oder ein Akt der Verzweiflung sei, der anstatt
der Verachtung Mitleid und Entschuldigung verdiene, darin weichen die Urteile
der Geistlichen, Juristen, Philosophen und Arzte wesentlich voneinander ab. Der
Geistliche verurteilt die irreligiöse Handlungsweise und verweigert die Einsegnung der
Leiche. Im Gesetze Moses heißt es, du sollst nicht töten, der Mord ist ebenso
wie der Selbstmord ein Verbrechen. Fichte und Kant erklären ihn für unsittlich,
weil ein Selbstmörder sich aller Pflichterfüllung entzieht; schon Plato stellte die
Menschen auf einen höheren Wachtposten, von dem sich niemand ablösen dürfe.
Schopenhauer nennt es eine sinnlose Phrase, wenn man behaupte, der Selbst¬
mord sei ein Unrecht. Nach materialistischer Ansicht darf der Mensch das Leben
von sich werfen, wenn es wertlos ist. Mit Milde sieht der Psychiater auf jenen
Unglücklichen herab, der in Seelenqualen und wohl gar geistiger Umnachtung
in den Tod ging. Unter den Dichtern verstößt Dante die Selbstmörder in die
Hölle, während Dramatiker wie Shakespeare, Schiller, Goethe und G. Hauptmann
den Selbstmord als tragischen Ausgang verherrlichen. Goethe, der selbst einst,
beherrscht von Zweifeln an der Zukunft und Vorwürfen über die Vergangenheit,
an Selbstmordneigung litt, erklärt in „Aus meinem Leben" den Selbstmord für
ein Ereignis der menschlichen Natur, das jeden Menschen zur Teilnahme fordert.
Tolstoi spricht dem Menschen das Recht sich zu töten zwar zu, hält die Tat


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[0218] Der Selbstmord, seine Zunahme und die Präventivmittel ihr Recht fordern und die Reichsinteressen so unerschrocken, so kraftvoll und siegreich verfechten, wie die Privatinteressen dies stets verstanden haben. Bis auf seine natürlichen Grenzen erweitert verspricht das Reichserbrecht gemäß früherer Veranschlagung (Ur. 43 der „Grenzboten") außerordentlich hohe Erträge. Eine Vorlage dieses Inhalts ist des allgemeinen Beifalls sicher. Wenn nicht alles täuscht, so ist die Bevölkerung der unfruchtbaren Parteikämpfe herzlich müde; sie wird aufatmen und mit Freude eine positive Ausgabe begrüßen, die auf dem gemeinsamen Boden der idealen und materiellen Interessen ein hohes Ziel verfolgt, im eigentlichsten Sinne ein Werk der Versöhnung. Der Selbstmord, seine Zunahme und die Präventivmittel Dr. F. Schilling von Ureisxhysikus a, D, MMM WM^M'indes offenbart in so greller Weise die psychische Disharmonie eines unglücklichen Menschen als der Selbstmord, jener Gewaltakt, der alle natürlichen Bande vorsätzlich zerreißt, jener tragische Konflikt, der sich zur Anklage gegen die Kultur und die menschlichen In¬ stitutionen richtet, da scheinbar mit den Fortschritten der Kultur auch unablässig die Häufigkeit der Selbstmorde steigt. Das Selbstmordproblem ist mit vielen Fragen verknüpft, die noch zum Teil der Lösung harren. Ob der Selbstmord unbedingt ein Verbrechen, eine Tat des Mutes oder der Feigheit oder ein Akt der Verzweiflung sei, der anstatt der Verachtung Mitleid und Entschuldigung verdiene, darin weichen die Urteile der Geistlichen, Juristen, Philosophen und Arzte wesentlich voneinander ab. Der Geistliche verurteilt die irreligiöse Handlungsweise und verweigert die Einsegnung der Leiche. Im Gesetze Moses heißt es, du sollst nicht töten, der Mord ist ebenso wie der Selbstmord ein Verbrechen. Fichte und Kant erklären ihn für unsittlich, weil ein Selbstmörder sich aller Pflichterfüllung entzieht; schon Plato stellte die Menschen auf einen höheren Wachtposten, von dem sich niemand ablösen dürfe. Schopenhauer nennt es eine sinnlose Phrase, wenn man behaupte, der Selbst¬ mord sei ein Unrecht. Nach materialistischer Ansicht darf der Mensch das Leben von sich werfen, wenn es wertlos ist. Mit Milde sieht der Psychiater auf jenen Unglücklichen herab, der in Seelenqualen und wohl gar geistiger Umnachtung in den Tod ging. Unter den Dichtern verstößt Dante die Selbstmörder in die Hölle, während Dramatiker wie Shakespeare, Schiller, Goethe und G. Hauptmann den Selbstmord als tragischen Ausgang verherrlichen. Goethe, der selbst einst, beherrscht von Zweifeln an der Zukunft und Vorwürfen über die Vergangenheit, an Selbstmordneigung litt, erklärt in „Aus meinem Leben" den Selbstmord für ein Ereignis der menschlichen Natur, das jeden Menschen zur Teilnahme fordert. Tolstoi spricht dem Menschen das Recht sich zu töten zwar zu, hält die Tat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/218>, abgerufen am 29.04.2024.