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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Einen besonderen Platz nimmt im Schaffen des Dichters "Kein Hüsung"
ein, und wenn es nach dem Dichter selber ginge, müßte der besondere Platz
zugleich der Ehrenplatz sein. Nun verdient zwar diese dunkle Dichtung der
sozialen Anklage einen ehrenvollen Platz, aber den Ehrenplatz im Schaffen
Reuters wird man ihr schwerlich anweisen können. Reuter liegt mit dem
Rhythmus im Kampf und die plattdeutsche Sprache verfällt mitunter in hoch¬
deutsche Wendungen (oder doch wenigstens in hochdeutsche Art), wenn sie
pathetisch reden soll. Es ist schon wahr, daß mitunter eine große Wucht der
Empfindungen erreicht wird; aber ich habe dann nicht immer das Gefühl, es
noch mit einem plattdeutschen Epos zu tun zu haben. Hat man das aber
ausgesprochen, muß auch mit aller Schärfe betont werden, daß die Menschen
der Armut zum Teil mit wunderbarer Echtheit gezeichnet und daß die Leiden
der Armut von einem gütigen Herzen begriffen worden sind. Ein Meisterwerk
in dem Sinne aber, daß es die ganze Art seines Urhebers ausstrahlte, kann
das Gedicht schon darum nicht sein, weil ihm etwas fehlt, was sonst nicht leicht
bei Reuter fehlt: der Humor. Es mag sein, daß es nicht immer der vornehmste
Teil des Reuterschen Humors war, der den Büchern die Leser gewann, aber
wir anderen brauchen darum nicht zu vergessen, daß dieser Humor von den
tiefsten Klängen des Gefühls bis zu den unbändigsten Szenen der Komik reicht.
Der warmherzige Mensch, aus dessen Schriften eine so schlichte Güte strahlt,
der farbensatte Milieuschilderer, der kraftvolle Bauern- und Menschenschilderer,
der vornehme Humorist, der die Lichter seiner Ironie über das närrische Dasein
dahinspielen läßt -- das ist es, was wir an Reuter lieben, und dessen wir
heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, in Treue gedenken wollen. Um so mehr,
als Reuter ein schweres Leben auf sich nehmen mußte, um die Bücher zu schreiben,
die uns anderen das Leben so oft erleichtert haben.




Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von (Fortsetzung.)

Draußen auf dem Gute wurde Botscharow von dem Kommis, den er zum
Verwalter eingesetzt hatte, mit der Mütze in der Hand und mit tiefen Bücklingen
empfangen, und während er den mit Zungengeläufigkeit abgestatteten Bericht
anhörte, half Ssurikow, ebenfalls mit der Mütze in der Hand, den Mädchen aus
dem Wagen. Dann machte der junge Mensch sich an Anna Dmitrijewna.

"Tantchenl Unbezahlbare!" sprach er leise, während sie sich rückwärts ihm
entgegenschob, und küßte verstohlen ihre Hand, die er von dem Rahmen des


Im Flecken

Einen besonderen Platz nimmt im Schaffen des Dichters „Kein Hüsung"
ein, und wenn es nach dem Dichter selber ginge, müßte der besondere Platz
zugleich der Ehrenplatz sein. Nun verdient zwar diese dunkle Dichtung der
sozialen Anklage einen ehrenvollen Platz, aber den Ehrenplatz im Schaffen
Reuters wird man ihr schwerlich anweisen können. Reuter liegt mit dem
Rhythmus im Kampf und die plattdeutsche Sprache verfällt mitunter in hoch¬
deutsche Wendungen (oder doch wenigstens in hochdeutsche Art), wenn sie
pathetisch reden soll. Es ist schon wahr, daß mitunter eine große Wucht der
Empfindungen erreicht wird; aber ich habe dann nicht immer das Gefühl, es
noch mit einem plattdeutschen Epos zu tun zu haben. Hat man das aber
ausgesprochen, muß auch mit aller Schärfe betont werden, daß die Menschen
der Armut zum Teil mit wunderbarer Echtheit gezeichnet und daß die Leiden
der Armut von einem gütigen Herzen begriffen worden sind. Ein Meisterwerk
in dem Sinne aber, daß es die ganze Art seines Urhebers ausstrahlte, kann
das Gedicht schon darum nicht sein, weil ihm etwas fehlt, was sonst nicht leicht
bei Reuter fehlt: der Humor. Es mag sein, daß es nicht immer der vornehmste
Teil des Reuterschen Humors war, der den Büchern die Leser gewann, aber
wir anderen brauchen darum nicht zu vergessen, daß dieser Humor von den
tiefsten Klängen des Gefühls bis zu den unbändigsten Szenen der Komik reicht.
Der warmherzige Mensch, aus dessen Schriften eine so schlichte Güte strahlt,
der farbensatte Milieuschilderer, der kraftvolle Bauern- und Menschenschilderer,
der vornehme Humorist, der die Lichter seiner Ironie über das närrische Dasein
dahinspielen läßt — das ist es, was wir an Reuter lieben, und dessen wir
heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, in Treue gedenken wollen. Um so mehr,
als Reuter ein schweres Leben auf sich nehmen mußte, um die Bücher zu schreiben,
die uns anderen das Leben so oft erleichtert haben.




Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von (Fortsetzung.)

Draußen auf dem Gute wurde Botscharow von dem Kommis, den er zum
Verwalter eingesetzt hatte, mit der Mütze in der Hand und mit tiefen Bücklingen
empfangen, und während er den mit Zungengeläufigkeit abgestatteten Bericht
anhörte, half Ssurikow, ebenfalls mit der Mütze in der Hand, den Mädchen aus
dem Wagen. Dann machte der junge Mensch sich an Anna Dmitrijewna.

„Tantchenl Unbezahlbare!" sprach er leise, während sie sich rückwärts ihm
entgegenschob, und küßte verstohlen ihre Hand, die er von dem Rahmen des


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[0280] Im Flecken Einen besonderen Platz nimmt im Schaffen des Dichters „Kein Hüsung" ein, und wenn es nach dem Dichter selber ginge, müßte der besondere Platz zugleich der Ehrenplatz sein. Nun verdient zwar diese dunkle Dichtung der sozialen Anklage einen ehrenvollen Platz, aber den Ehrenplatz im Schaffen Reuters wird man ihr schwerlich anweisen können. Reuter liegt mit dem Rhythmus im Kampf und die plattdeutsche Sprache verfällt mitunter in hoch¬ deutsche Wendungen (oder doch wenigstens in hochdeutsche Art), wenn sie pathetisch reden soll. Es ist schon wahr, daß mitunter eine große Wucht der Empfindungen erreicht wird; aber ich habe dann nicht immer das Gefühl, es noch mit einem plattdeutschen Epos zu tun zu haben. Hat man das aber ausgesprochen, muß auch mit aller Schärfe betont werden, daß die Menschen der Armut zum Teil mit wunderbarer Echtheit gezeichnet und daß die Leiden der Armut von einem gütigen Herzen begriffen worden sind. Ein Meisterwerk in dem Sinne aber, daß es die ganze Art seines Urhebers ausstrahlte, kann das Gedicht schon darum nicht sein, weil ihm etwas fehlt, was sonst nicht leicht bei Reuter fehlt: der Humor. Es mag sein, daß es nicht immer der vornehmste Teil des Reuterschen Humors war, der den Büchern die Leser gewann, aber wir anderen brauchen darum nicht zu vergessen, daß dieser Humor von den tiefsten Klängen des Gefühls bis zu den unbändigsten Szenen der Komik reicht. Der warmherzige Mensch, aus dessen Schriften eine so schlichte Güte strahlt, der farbensatte Milieuschilderer, der kraftvolle Bauern- und Menschenschilderer, der vornehme Humorist, der die Lichter seiner Ironie über das närrische Dasein dahinspielen läßt — das ist es, was wir an Reuter lieben, und dessen wir heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, in Treue gedenken wollen. Um so mehr, als Reuter ein schweres Leben auf sich nehmen mußte, um die Bücher zu schreiben, die uns anderen das Leben so oft erleichtert haben. Im Flecken Lrzählung aus der russischen Provinz Alexander Andreas-v, Reyher von (Fortsetzung.) Draußen auf dem Gute wurde Botscharow von dem Kommis, den er zum Verwalter eingesetzt hatte, mit der Mütze in der Hand und mit tiefen Bücklingen empfangen, und während er den mit Zungengeläufigkeit abgestatteten Bericht anhörte, half Ssurikow, ebenfalls mit der Mütze in der Hand, den Mädchen aus dem Wagen. Dann machte der junge Mensch sich an Anna Dmitrijewna. „Tantchenl Unbezahlbare!" sprach er leise, während sie sich rückwärts ihm entgegenschob, und küßte verstohlen ihre Hand, die er von dem Rahmen des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/280>, abgerufen am 29.04.2024.