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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertjährigen Geburtstag Fritz Reuters

Punkt hat er tatsächlich das Zeug, dem modernen Kulturmenschen Sprachstunden
zu geben, und Reuters Werke haben darum nicht nur der plattdeutschen Sprache
einen großen Dienst erwiesen, sondern haben gleichzeitig der hochdeutschen
Literatur die wohltuende Erfrischung eines Volksbades zukommen lassen.

Es kann in einem kurzen Artikel der Dankbarkeit nicht unsere Meinung
sein, zu einem Spaziergang durch alle größeren Werke Reuters ausholen zu
wollen. Wer auch nur eiues seiner Meisterwerke durchliest -- etwa "Ut de
Franzosentid"--, fühlt sich schon von der ganzen Atmosphäre des Dichters umgeben.
In der Franzosentid ist es nicht zum wenigsten die Heimlichkeit des Milieus,
in die sich der Leser mit Wohlgefallen einspinnen läßt. An dieser prächtigen
Kleinstadtschilderung spürt man, daß es doch auch seinen Vorteil hat, in einen:
so weltverlassenen Nest wie Stavenhagen geboren zu sein. Der Großstädter
bekommt leicht geschwächte Augen. Man sieht so viele Menschen, daß man sie
schließlich nur noch obenhin streift. Man berührt auf der Straße so viele
Schicksale mit dem Ärmel, daß man zuletzt von einer gewissen Gleichgültigkeit
befallen wird. Menschen und Dinge rücken einem nicht auf den Leib, und weil
sie einem fern bleiben, verfällt man leicht in eine schematische Behandlung.
Wenn in Berlin eine Etage über meiner Wohnung ein Mensch stirbt, sehe ich
zwar das schwarze Gepränge des Begräbnisses, aber in neun von zehn Fällen
habe ich den Verstorbenen nicht gekannt. Ich vermag den Hinterbliebenen nicht
in das traurige Herz zu sehen, ich kenne ihre Verhältnisse nicht und kann daher
auch nicht ermessen, wie tragisch eben dieser Todesfall zu nehmen ist. Mit
der persönlichen Berührung schwindet der persönliche Anteil und mit dem
persönlichen Anteil schwindet in der Dichtung der persönliche Duft. Wie anders
in dem lieben alten Stavenhagen! Es bedürfte hier keines Todesfalles, um
die Gemüter in Bewegung zu setzen. Man kannte seine Mitmenschen so genau,
daß man sich auch für kleine Veränderungen in ihrem Dasein interessierte, und
so ersteht in Reuters Dichtung das ganze kleine Nest in den sattesten und
anheimelndsten Farben. Es kommt hinzu, daß die Arbeit meisterhaft komponiert
ist, und daß man darum restlos in das Leben und Treiben dieser Menschen
hineingezogen wird. Der Bürgermeister, der Amtshauptmann, der Onkel Herse,
der Müller Jochen Voß, Mamsell Westphal usw., alle diese ländlichen und klein¬
städtischen Originale wandern in voller Lebendigkeit durch das Buch, und auch
Reuters Kunst der Bauernschilderung sendet hier und da ein Streiflicht über
die Blätter. Wenn die redliche Tochter von Jochen Voß sich angsterfüllt über
den französischen Münzschatz wirft, um ihren Vater vor Verführung zu bewahren;
wenn der Sohn des feindlichen Verwandten ins Zimmer tritt, um in knappen,
empfindungsschweren Worten die alten Beziehungen wieder aufzunehmen; wenn
Jochen Voß sich auf dem Wagen mit seinem Knecht unterhält: dann spüren wir
überall die wirkliche Bauernnatur und die wirkliche Bauernsprnche klingt in
unser Ohr. Mir scheinen Franzosentid und Festungstid künstlerisch geschlossener
und vornehmer zu sein, als die im übrigen mit Recht berühmte Stromtid.


Zum hundertjährigen Geburtstag Fritz Reuters

Punkt hat er tatsächlich das Zeug, dem modernen Kulturmenschen Sprachstunden
zu geben, und Reuters Werke haben darum nicht nur der plattdeutschen Sprache
einen großen Dienst erwiesen, sondern haben gleichzeitig der hochdeutschen
Literatur die wohltuende Erfrischung eines Volksbades zukommen lassen.

Es kann in einem kurzen Artikel der Dankbarkeit nicht unsere Meinung
sein, zu einem Spaziergang durch alle größeren Werke Reuters ausholen zu
wollen. Wer auch nur eiues seiner Meisterwerke durchliest — etwa „Ut de
Franzosentid"—, fühlt sich schon von der ganzen Atmosphäre des Dichters umgeben.
In der Franzosentid ist es nicht zum wenigsten die Heimlichkeit des Milieus,
in die sich der Leser mit Wohlgefallen einspinnen läßt. An dieser prächtigen
Kleinstadtschilderung spürt man, daß es doch auch seinen Vorteil hat, in einen:
so weltverlassenen Nest wie Stavenhagen geboren zu sein. Der Großstädter
bekommt leicht geschwächte Augen. Man sieht so viele Menschen, daß man sie
schließlich nur noch obenhin streift. Man berührt auf der Straße so viele
Schicksale mit dem Ärmel, daß man zuletzt von einer gewissen Gleichgültigkeit
befallen wird. Menschen und Dinge rücken einem nicht auf den Leib, und weil
sie einem fern bleiben, verfällt man leicht in eine schematische Behandlung.
Wenn in Berlin eine Etage über meiner Wohnung ein Mensch stirbt, sehe ich
zwar das schwarze Gepränge des Begräbnisses, aber in neun von zehn Fällen
habe ich den Verstorbenen nicht gekannt. Ich vermag den Hinterbliebenen nicht
in das traurige Herz zu sehen, ich kenne ihre Verhältnisse nicht und kann daher
auch nicht ermessen, wie tragisch eben dieser Todesfall zu nehmen ist. Mit
der persönlichen Berührung schwindet der persönliche Anteil und mit dem
persönlichen Anteil schwindet in der Dichtung der persönliche Duft. Wie anders
in dem lieben alten Stavenhagen! Es bedürfte hier keines Todesfalles, um
die Gemüter in Bewegung zu setzen. Man kannte seine Mitmenschen so genau,
daß man sich auch für kleine Veränderungen in ihrem Dasein interessierte, und
so ersteht in Reuters Dichtung das ganze kleine Nest in den sattesten und
anheimelndsten Farben. Es kommt hinzu, daß die Arbeit meisterhaft komponiert
ist, und daß man darum restlos in das Leben und Treiben dieser Menschen
hineingezogen wird. Der Bürgermeister, der Amtshauptmann, der Onkel Herse,
der Müller Jochen Voß, Mamsell Westphal usw., alle diese ländlichen und klein¬
städtischen Originale wandern in voller Lebendigkeit durch das Buch, und auch
Reuters Kunst der Bauernschilderung sendet hier und da ein Streiflicht über
die Blätter. Wenn die redliche Tochter von Jochen Voß sich angsterfüllt über
den französischen Münzschatz wirft, um ihren Vater vor Verführung zu bewahren;
wenn der Sohn des feindlichen Verwandten ins Zimmer tritt, um in knappen,
empfindungsschweren Worten die alten Beziehungen wieder aufzunehmen; wenn
Jochen Voß sich auf dem Wagen mit seinem Knecht unterhält: dann spüren wir
überall die wirkliche Bauernnatur und die wirkliche Bauernsprnche klingt in
unser Ohr. Mir scheinen Franzosentid und Festungstid künstlerisch geschlossener
und vornehmer zu sein, als die im übrigen mit Recht berühmte Stromtid.


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[0279] Zum hundertjährigen Geburtstag Fritz Reuters Punkt hat er tatsächlich das Zeug, dem modernen Kulturmenschen Sprachstunden zu geben, und Reuters Werke haben darum nicht nur der plattdeutschen Sprache einen großen Dienst erwiesen, sondern haben gleichzeitig der hochdeutschen Literatur die wohltuende Erfrischung eines Volksbades zukommen lassen. Es kann in einem kurzen Artikel der Dankbarkeit nicht unsere Meinung sein, zu einem Spaziergang durch alle größeren Werke Reuters ausholen zu wollen. Wer auch nur eiues seiner Meisterwerke durchliest — etwa „Ut de Franzosentid"—, fühlt sich schon von der ganzen Atmosphäre des Dichters umgeben. In der Franzosentid ist es nicht zum wenigsten die Heimlichkeit des Milieus, in die sich der Leser mit Wohlgefallen einspinnen läßt. An dieser prächtigen Kleinstadtschilderung spürt man, daß es doch auch seinen Vorteil hat, in einen: so weltverlassenen Nest wie Stavenhagen geboren zu sein. Der Großstädter bekommt leicht geschwächte Augen. Man sieht so viele Menschen, daß man sie schließlich nur noch obenhin streift. Man berührt auf der Straße so viele Schicksale mit dem Ärmel, daß man zuletzt von einer gewissen Gleichgültigkeit befallen wird. Menschen und Dinge rücken einem nicht auf den Leib, und weil sie einem fern bleiben, verfällt man leicht in eine schematische Behandlung. Wenn in Berlin eine Etage über meiner Wohnung ein Mensch stirbt, sehe ich zwar das schwarze Gepränge des Begräbnisses, aber in neun von zehn Fällen habe ich den Verstorbenen nicht gekannt. Ich vermag den Hinterbliebenen nicht in das traurige Herz zu sehen, ich kenne ihre Verhältnisse nicht und kann daher auch nicht ermessen, wie tragisch eben dieser Todesfall zu nehmen ist. Mit der persönlichen Berührung schwindet der persönliche Anteil und mit dem persönlichen Anteil schwindet in der Dichtung der persönliche Duft. Wie anders in dem lieben alten Stavenhagen! Es bedürfte hier keines Todesfalles, um die Gemüter in Bewegung zu setzen. Man kannte seine Mitmenschen so genau, daß man sich auch für kleine Veränderungen in ihrem Dasein interessierte, und so ersteht in Reuters Dichtung das ganze kleine Nest in den sattesten und anheimelndsten Farben. Es kommt hinzu, daß die Arbeit meisterhaft komponiert ist, und daß man darum restlos in das Leben und Treiben dieser Menschen hineingezogen wird. Der Bürgermeister, der Amtshauptmann, der Onkel Herse, der Müller Jochen Voß, Mamsell Westphal usw., alle diese ländlichen und klein¬ städtischen Originale wandern in voller Lebendigkeit durch das Buch, und auch Reuters Kunst der Bauernschilderung sendet hier und da ein Streiflicht über die Blätter. Wenn die redliche Tochter von Jochen Voß sich angsterfüllt über den französischen Münzschatz wirft, um ihren Vater vor Verführung zu bewahren; wenn der Sohn des feindlichen Verwandten ins Zimmer tritt, um in knappen, empfindungsschweren Worten die alten Beziehungen wieder aufzunehmen; wenn Jochen Voß sich auf dem Wagen mit seinem Knecht unterhält: dann spüren wir überall die wirkliche Bauernnatur und die wirkliche Bauernsprnche klingt in unser Ohr. Mir scheinen Franzosentid und Festungstid künstlerisch geschlossener und vornehmer zu sein, als die im übrigen mit Recht berühmte Stromtid.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/279>, abgerufen am 15.05.2024.