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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und schule
n L?olle- vo

is ich vor etwa dreißig Jahren den Versuch machte, im natur¬
geschichtlichen Unterricht, der damals noch sogenannten "Natur¬
beschreibung", am Realgymnasium das mir durch eigene
wissenschaftliche Untersuchungen lieb gewordene Leben der Pflanzen
zur Geltung zu bringen, wurden mir von der Schulbehörde auf
das Gutachten eines Schuldirektors hin, der zugleich als Botaniker einen an¬
gesehenen Namen hatte, die größten Hindernisse in den Weg gelegt. Nach diesem
Gutachten gehörte nur die Morphologie und Systematik in die Schule. Das
ist jetzt anders geworden und in das Gegenteil verkehrt. "Naturbeschreibung"
^se in "Biologie", Lebenslehre, umgetauft, und die Schüler werden unter Ver¬
nachlässigung der Systematik zu biologischen Forschern gemacht. Denn es wird
die Forderung erhoben, wie in anderen Naturwissenschaften, so auch in der
Naturgeschichte die wissenschaftlichen Ergebnisse ganz und gar auf eigenen Be¬
obachtungen und Experimenten der Schüler aufzubauen.

In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Forderung stehen die Schulbücher,
die in schönrednerischer Ausführlichkeit und zugleich mit einer Überfülle von
möglichst auch farbigen Bildern das zu Erforschende darstellen und damit dem
Schüler die Freude des Selbstfindens und die frische Anteilnahme am Fortgang
des Unterrichts vorwegnehmen, statt mit einem knappen, nicht durch Bilder auf
leder Seite in Verwirrung gebrachten Text ihm einen zusammenhängenden,
durchsichtigen Überblick über das im Unterricht Erarbeitete zu bieten. Jene
Form der Schulbücher bedeutet eine Rücksichtnahme der Verfasser auf die
wissenschaftliche Schwäche oder die pädagogische Bequemlichkeit vieler Lehrer
und wird verstärkt durch das Bestreben der Verleger, sich gegenseitig in "Aus¬
stattung" zu überbieten. Für Bücher zum Selbstunterricht ist diese Ausstattung
gewiß unentbehrlich, bei den Schulbüchern bedeutet sie eine Begünstigung des
mechanischen Einpaukens, denn das Buch lehrt und zeigt die Sache ja viel
deutlicher als die "höchst überflüssige" Natur!

Die allgemeine Verbreitung solcher Schulbücher beweist aber, daß der
Ünterrichtsbetrieb in diesem Fache noch im Flusse ist und daß es mit der
geforderten empirischen Ableitung der wissenschaftlichen Ergebnisse in der Schule


Grmzvoten IV 1910 33


Biologie und schule
n L?olle- vo

is ich vor etwa dreißig Jahren den Versuch machte, im natur¬
geschichtlichen Unterricht, der damals noch sogenannten „Natur¬
beschreibung", am Realgymnasium das mir durch eigene
wissenschaftliche Untersuchungen lieb gewordene Leben der Pflanzen
zur Geltung zu bringen, wurden mir von der Schulbehörde auf
das Gutachten eines Schuldirektors hin, der zugleich als Botaniker einen an¬
gesehenen Namen hatte, die größten Hindernisse in den Weg gelegt. Nach diesem
Gutachten gehörte nur die Morphologie und Systematik in die Schule. Das
ist jetzt anders geworden und in das Gegenteil verkehrt. „Naturbeschreibung"
^se in „Biologie", Lebenslehre, umgetauft, und die Schüler werden unter Ver¬
nachlässigung der Systematik zu biologischen Forschern gemacht. Denn es wird
die Forderung erhoben, wie in anderen Naturwissenschaften, so auch in der
Naturgeschichte die wissenschaftlichen Ergebnisse ganz und gar auf eigenen Be¬
obachtungen und Experimenten der Schüler aufzubauen.

In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Forderung stehen die Schulbücher,
die in schönrednerischer Ausführlichkeit und zugleich mit einer Überfülle von
möglichst auch farbigen Bildern das zu Erforschende darstellen und damit dem
Schüler die Freude des Selbstfindens und die frische Anteilnahme am Fortgang
des Unterrichts vorwegnehmen, statt mit einem knappen, nicht durch Bilder auf
leder Seite in Verwirrung gebrachten Text ihm einen zusammenhängenden,
durchsichtigen Überblick über das im Unterricht Erarbeitete zu bieten. Jene
Form der Schulbücher bedeutet eine Rücksichtnahme der Verfasser auf die
wissenschaftliche Schwäche oder die pädagogische Bequemlichkeit vieler Lehrer
und wird verstärkt durch das Bestreben der Verleger, sich gegenseitig in „Aus¬
stattung" zu überbieten. Für Bücher zum Selbstunterricht ist diese Ausstattung
gewiß unentbehrlich, bei den Schulbüchern bedeutet sie eine Begünstigung des
mechanischen Einpaukens, denn das Buch lehrt und zeigt die Sache ja viel
deutlicher als die „höchst überflüssige" Natur!

Die allgemeine Verbreitung solcher Schulbücher beweist aber, daß der
Ünterrichtsbetrieb in diesem Fache noch im Flusse ist und daß es mit der
geforderten empirischen Ableitung der wissenschaftlichen Ergebnisse in der Schule


Grmzvoten IV 1910 33
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[0309] [Abbildung] Biologie und schule n L?olle- vo is ich vor etwa dreißig Jahren den Versuch machte, im natur¬ geschichtlichen Unterricht, der damals noch sogenannten „Natur¬ beschreibung", am Realgymnasium das mir durch eigene wissenschaftliche Untersuchungen lieb gewordene Leben der Pflanzen zur Geltung zu bringen, wurden mir von der Schulbehörde auf das Gutachten eines Schuldirektors hin, der zugleich als Botaniker einen an¬ gesehenen Namen hatte, die größten Hindernisse in den Weg gelegt. Nach diesem Gutachten gehörte nur die Morphologie und Systematik in die Schule. Das ist jetzt anders geworden und in das Gegenteil verkehrt. „Naturbeschreibung" ^se in „Biologie", Lebenslehre, umgetauft, und die Schüler werden unter Ver¬ nachlässigung der Systematik zu biologischen Forschern gemacht. Denn es wird die Forderung erhoben, wie in anderen Naturwissenschaften, so auch in der Naturgeschichte die wissenschaftlichen Ergebnisse ganz und gar auf eigenen Be¬ obachtungen und Experimenten der Schüler aufzubauen. In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Forderung stehen die Schulbücher, die in schönrednerischer Ausführlichkeit und zugleich mit einer Überfülle von möglichst auch farbigen Bildern das zu Erforschende darstellen und damit dem Schüler die Freude des Selbstfindens und die frische Anteilnahme am Fortgang des Unterrichts vorwegnehmen, statt mit einem knappen, nicht durch Bilder auf leder Seite in Verwirrung gebrachten Text ihm einen zusammenhängenden, durchsichtigen Überblick über das im Unterricht Erarbeitete zu bieten. Jene Form der Schulbücher bedeutet eine Rücksichtnahme der Verfasser auf die wissenschaftliche Schwäche oder die pädagogische Bequemlichkeit vieler Lehrer und wird verstärkt durch das Bestreben der Verleger, sich gegenseitig in „Aus¬ stattung" zu überbieten. Für Bücher zum Selbstunterricht ist diese Ausstattung gewiß unentbehrlich, bei den Schulbüchern bedeutet sie eine Begünstigung des mechanischen Einpaukens, denn das Buch lehrt und zeigt die Sache ja viel deutlicher als die „höchst überflüssige" Natur! Die allgemeine Verbreitung solcher Schulbücher beweist aber, daß der Ünterrichtsbetrieb in diesem Fache noch im Flusse ist und daß es mit der geforderten empirischen Ableitung der wissenschaftlichen Ergebnisse in der Schule Grmzvoten IV 1910 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/309>, abgerufen am 29.04.2024.