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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der neue deutsche Shakespeare
Berthold Vallentin von

riedrich Gundolf^) ergreift Shakespeare nicht in seiner Oberflächen¬
erscheinung, die ihm von anderthalb JahrhundertenLiteraturgeschichte
aufgeprägt ist, als höchstes Muster einer besonders kompliziert
gedachten Gattung der Dichtung, des Dramas, sondern in seiner
Grund-und Gesamtverfassung als allgemeines dichterisches Ingenium,
dessen lebendiger -- also ihm in seiner Besonderheit (zeitlicher, volklicher, indi¬
vidueller) zukommender und als solcher in der gleichen Form nicht nach¬
zubildender -- Ausdruck sein Drama ist. Er umarmt in Shakespeare den Typus
des großen Dichters der Reihe Homer, Sophokles, Dante, Goethe. Seine lebendige
Form, die dramatische, erlebt er nicht als Muster und Vorbild einer Gattung
(eher noch als ihren Widerspruch und ihre Verwerfung), sondern als das eines
Dichterischen überhaupt, als Offenbarung einer der großen allgemeinen, das
Dichterische tragenden (aber eben in ihr zeitlich, volklich, persönlich gebundenen)
Grundkräfte des Menschlichen.

Diese Anschauung von Shakespeare als von einem lebendigen, nur von
den großen menschlichen Grundkräften abhängigen dichterischen Ethos ist es, die
dies Werk zu einem neuen, zu einem programmatischen, die diese Übersetzung
zur ersten Verdeutschung des britischen Genius macht. Eine Betrachtung der
äußeren Umstände, unter denen diese Übersetzung entstand, und der dichterischen
Verfassung ihres Urhebers wird gleichmäßig unsere Aufstellung rechtfertigen.

Die Leere der Schauspielhäuser -- auch derer, welche die am literarischen
"Betrieb" beteiligte Presse jeweils als sogenannte "Kulturtheater" vorschiebt --
beweist heute dem sachlich Sehenden unzweideutig das Aufhören des Zusammen¬
hangs zwischen Theater und Publikum; nur einige unbelehrbare deutsche Ideologen
glauben, sie könnten mit der Langeweile diffiziler Konstruktionen über einem
spekulierten Gattungsbegriff die für das Volk (und das bleibt das Wesentliche)
gar nicht in diesen: Sinn existierende literarische Gattung Drama stützen und



*) Shakespeare in deutscher Sprache herausgegeben, zum Teil neu übersetzt von Friedrich
Gundvlf (bisher sind erschienen Band I und II) im Verlag von Georg Bondi, Berlin, Buch¬
schmuck von Melchior Lechter.
Grenzboten IV 1910 44


Der neue deutsche Shakespeare
Berthold Vallentin von

riedrich Gundolf^) ergreift Shakespeare nicht in seiner Oberflächen¬
erscheinung, die ihm von anderthalb JahrhundertenLiteraturgeschichte
aufgeprägt ist, als höchstes Muster einer besonders kompliziert
gedachten Gattung der Dichtung, des Dramas, sondern in seiner
Grund-und Gesamtverfassung als allgemeines dichterisches Ingenium,
dessen lebendiger — also ihm in seiner Besonderheit (zeitlicher, volklicher, indi¬
vidueller) zukommender und als solcher in der gleichen Form nicht nach¬
zubildender — Ausdruck sein Drama ist. Er umarmt in Shakespeare den Typus
des großen Dichters der Reihe Homer, Sophokles, Dante, Goethe. Seine lebendige
Form, die dramatische, erlebt er nicht als Muster und Vorbild einer Gattung
(eher noch als ihren Widerspruch und ihre Verwerfung), sondern als das eines
Dichterischen überhaupt, als Offenbarung einer der großen allgemeinen, das
Dichterische tragenden (aber eben in ihr zeitlich, volklich, persönlich gebundenen)
Grundkräfte des Menschlichen.

Diese Anschauung von Shakespeare als von einem lebendigen, nur von
den großen menschlichen Grundkräften abhängigen dichterischen Ethos ist es, die
dies Werk zu einem neuen, zu einem programmatischen, die diese Übersetzung
zur ersten Verdeutschung des britischen Genius macht. Eine Betrachtung der
äußeren Umstände, unter denen diese Übersetzung entstand, und der dichterischen
Verfassung ihres Urhebers wird gleichmäßig unsere Aufstellung rechtfertigen.

Die Leere der Schauspielhäuser — auch derer, welche die am literarischen
„Betrieb" beteiligte Presse jeweils als sogenannte „Kulturtheater" vorschiebt —
beweist heute dem sachlich Sehenden unzweideutig das Aufhören des Zusammen¬
hangs zwischen Theater und Publikum; nur einige unbelehrbare deutsche Ideologen
glauben, sie könnten mit der Langeweile diffiziler Konstruktionen über einem
spekulierten Gattungsbegriff die für das Volk (und das bleibt das Wesentliche)
gar nicht in diesen: Sinn existierende literarische Gattung Drama stützen und



*) Shakespeare in deutscher Sprache herausgegeben, zum Teil neu übersetzt von Friedrich
Gundvlf (bisher sind erschienen Band I und II) im Verlag von Georg Bondi, Berlin, Buch¬
schmuck von Melchior Lechter.
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[0357] [Abbildung] Der neue deutsche Shakespeare Berthold Vallentin von riedrich Gundolf^) ergreift Shakespeare nicht in seiner Oberflächen¬ erscheinung, die ihm von anderthalb JahrhundertenLiteraturgeschichte aufgeprägt ist, als höchstes Muster einer besonders kompliziert gedachten Gattung der Dichtung, des Dramas, sondern in seiner Grund-und Gesamtverfassung als allgemeines dichterisches Ingenium, dessen lebendiger — also ihm in seiner Besonderheit (zeitlicher, volklicher, indi¬ vidueller) zukommender und als solcher in der gleichen Form nicht nach¬ zubildender — Ausdruck sein Drama ist. Er umarmt in Shakespeare den Typus des großen Dichters der Reihe Homer, Sophokles, Dante, Goethe. Seine lebendige Form, die dramatische, erlebt er nicht als Muster und Vorbild einer Gattung (eher noch als ihren Widerspruch und ihre Verwerfung), sondern als das eines Dichterischen überhaupt, als Offenbarung einer der großen allgemeinen, das Dichterische tragenden (aber eben in ihr zeitlich, volklich, persönlich gebundenen) Grundkräfte des Menschlichen. Diese Anschauung von Shakespeare als von einem lebendigen, nur von den großen menschlichen Grundkräften abhängigen dichterischen Ethos ist es, die dies Werk zu einem neuen, zu einem programmatischen, die diese Übersetzung zur ersten Verdeutschung des britischen Genius macht. Eine Betrachtung der äußeren Umstände, unter denen diese Übersetzung entstand, und der dichterischen Verfassung ihres Urhebers wird gleichmäßig unsere Aufstellung rechtfertigen. Die Leere der Schauspielhäuser — auch derer, welche die am literarischen „Betrieb" beteiligte Presse jeweils als sogenannte „Kulturtheater" vorschiebt — beweist heute dem sachlich Sehenden unzweideutig das Aufhören des Zusammen¬ hangs zwischen Theater und Publikum; nur einige unbelehrbare deutsche Ideologen glauben, sie könnten mit der Langeweile diffiziler Konstruktionen über einem spekulierten Gattungsbegriff die für das Volk (und das bleibt das Wesentliche) gar nicht in diesen: Sinn existierende literarische Gattung Drama stützen und *) Shakespeare in deutscher Sprache herausgegeben, zum Teil neu übersetzt von Friedrich Gundvlf (bisher sind erschienen Band I und II) im Verlag von Georg Bondi, Berlin, Buch¬ schmuck von Melchior Lechter. Grenzboten IV 1910 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/357>, abgerufen am 29.04.2024.