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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mereshkowsky
Eugen Zabel von

le russische Literatur wurzelt mehr als jede andere im Heimat¬
boden und erstrebt vor allen: eine in die Sinne springende Dar¬
stellung des Wirklichen, die Schilderung der Natur auf slawischer Erde
und der Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen, die sich in den
verschiedenen Schichten der Gesellschaft abspielen. Nur in einzelnen
Goldfäden schimmert die Sehnsucht nach dem "gelobten Lande" jenseits der
Alpen durch die erzählenden und dramatischen Erzeugnisse der Steppensöhne
hindurch, denen das künstlerische Schaffen um seiner selbst willen nicht genügt,
weil sie in der Dichtung eine scharfe Waffe zur Aufklärung und ein Mittel zur
Befreiung der Geister erblicken. In den anmutig fließenden Versen seines
Jugendwerks "Rußlan und Ludmilla" zollte Puschkin der Zauberwelt Ariostos
seinen Tribut und versuchte über russische Sagen und Märchen das reine Blau
des italienischen Himmels sich wölben zu lassen. Shukowskn, der große Nach¬
empfinder und Übersetzer des Westens, brachte als Erzieher und Reisebegleiter
des späteren Zarbefreiers Alexander des Zweiten von seiner Europafahrt eine
Fülle der schönsten Bilder und Anregungen mit. Erstaunlich war es, wie ein
solcher Meister des erbarmungslosen Naturalismus wie Gogol sich nirgends
wohler als in Rom fühlen konnte, wo er im Schatten des Kolosseums und
unter den Wölbungen der Peterskirche still beglückt aufatmete, wenn er sich in
dem satirischen Bildersaal seines "Revisors" und seiner "Toten Seelen" erschöpft
fühlte. Iwan Turgenjew, der wie kein zweiter Russe mit der Kultur von ganz
Europa gesättigt war, wird zum jugendlichen Schwärmer, wenn er in seinen
Lebenserinnerungen von der ewigen Stadt spricht. Andere bedeutende Dichter
des Zarenreichs, wie Nekrassow und Tolstoi, haben sich dagegen, um ein geist¬
reiches Wort von dem Verfasser des "Tagebuchs eines Jägers" zu gebrauchen,
in Italien wie der Hecht in der Oper gefühlt. Neuerdings macht sich in der
russischen Literatur eine Strömung bemerkbar, deren Quelle in der Schönheits¬
welt des Südens liegt und die ihre erzieherische Kraftmischung durch ein ganzes
System von Kanälen über das weite Land auszubreiten sucht.

DerHauptvertreter dieserRichtung ist der 1866 geborene DmitriMereshkowsku,
dessen kraftvolles Talent sich seitdem auf eine Höhe geschwungen hat, wohin




Dmitri Mereshkowsky
Eugen Zabel von

le russische Literatur wurzelt mehr als jede andere im Heimat¬
boden und erstrebt vor allen: eine in die Sinne springende Dar¬
stellung des Wirklichen, die Schilderung der Natur auf slawischer Erde
und der Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen, die sich in den
verschiedenen Schichten der Gesellschaft abspielen. Nur in einzelnen
Goldfäden schimmert die Sehnsucht nach dem „gelobten Lande" jenseits der
Alpen durch die erzählenden und dramatischen Erzeugnisse der Steppensöhne
hindurch, denen das künstlerische Schaffen um seiner selbst willen nicht genügt,
weil sie in der Dichtung eine scharfe Waffe zur Aufklärung und ein Mittel zur
Befreiung der Geister erblicken. In den anmutig fließenden Versen seines
Jugendwerks „Rußlan und Ludmilla" zollte Puschkin der Zauberwelt Ariostos
seinen Tribut und versuchte über russische Sagen und Märchen das reine Blau
des italienischen Himmels sich wölben zu lassen. Shukowskn, der große Nach¬
empfinder und Übersetzer des Westens, brachte als Erzieher und Reisebegleiter
des späteren Zarbefreiers Alexander des Zweiten von seiner Europafahrt eine
Fülle der schönsten Bilder und Anregungen mit. Erstaunlich war es, wie ein
solcher Meister des erbarmungslosen Naturalismus wie Gogol sich nirgends
wohler als in Rom fühlen konnte, wo er im Schatten des Kolosseums und
unter den Wölbungen der Peterskirche still beglückt aufatmete, wenn er sich in
dem satirischen Bildersaal seines „Revisors" und seiner „Toten Seelen" erschöpft
fühlte. Iwan Turgenjew, der wie kein zweiter Russe mit der Kultur von ganz
Europa gesättigt war, wird zum jugendlichen Schwärmer, wenn er in seinen
Lebenserinnerungen von der ewigen Stadt spricht. Andere bedeutende Dichter
des Zarenreichs, wie Nekrassow und Tolstoi, haben sich dagegen, um ein geist¬
reiches Wort von dem Verfasser des „Tagebuchs eines Jägers" zu gebrauchen,
in Italien wie der Hecht in der Oper gefühlt. Neuerdings macht sich in der
russischen Literatur eine Strömung bemerkbar, deren Quelle in der Schönheits¬
welt des Südens liegt und die ihre erzieherische Kraftmischung durch ein ganzes
System von Kanälen über das weite Land auszubreiten sucht.

DerHauptvertreter dieserRichtung ist der 1866 geborene DmitriMereshkowsku,
dessen kraftvolles Talent sich seitdem auf eine Höhe geschwungen hat, wohin


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[0040] [Abbildung] Dmitri Mereshkowsky Eugen Zabel von le russische Literatur wurzelt mehr als jede andere im Heimat¬ boden und erstrebt vor allen: eine in die Sinne springende Dar¬ stellung des Wirklichen, die Schilderung der Natur auf slawischer Erde und der Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen, die sich in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft abspielen. Nur in einzelnen Goldfäden schimmert die Sehnsucht nach dem „gelobten Lande" jenseits der Alpen durch die erzählenden und dramatischen Erzeugnisse der Steppensöhne hindurch, denen das künstlerische Schaffen um seiner selbst willen nicht genügt, weil sie in der Dichtung eine scharfe Waffe zur Aufklärung und ein Mittel zur Befreiung der Geister erblicken. In den anmutig fließenden Versen seines Jugendwerks „Rußlan und Ludmilla" zollte Puschkin der Zauberwelt Ariostos seinen Tribut und versuchte über russische Sagen und Märchen das reine Blau des italienischen Himmels sich wölben zu lassen. Shukowskn, der große Nach¬ empfinder und Übersetzer des Westens, brachte als Erzieher und Reisebegleiter des späteren Zarbefreiers Alexander des Zweiten von seiner Europafahrt eine Fülle der schönsten Bilder und Anregungen mit. Erstaunlich war es, wie ein solcher Meister des erbarmungslosen Naturalismus wie Gogol sich nirgends wohler als in Rom fühlen konnte, wo er im Schatten des Kolosseums und unter den Wölbungen der Peterskirche still beglückt aufatmete, wenn er sich in dem satirischen Bildersaal seines „Revisors" und seiner „Toten Seelen" erschöpft fühlte. Iwan Turgenjew, der wie kein zweiter Russe mit der Kultur von ganz Europa gesättigt war, wird zum jugendlichen Schwärmer, wenn er in seinen Lebenserinnerungen von der ewigen Stadt spricht. Andere bedeutende Dichter des Zarenreichs, wie Nekrassow und Tolstoi, haben sich dagegen, um ein geist¬ reiches Wort von dem Verfasser des „Tagebuchs eines Jägers" zu gebrauchen, in Italien wie der Hecht in der Oper gefühlt. Neuerdings macht sich in der russischen Literatur eine Strömung bemerkbar, deren Quelle in der Schönheits¬ welt des Südens liegt und die ihre erzieherische Kraftmischung durch ein ganzes System von Kanälen über das weite Land auszubreiten sucht. DerHauptvertreter dieserRichtung ist der 1866 geborene DmitriMereshkowsku, dessen kraftvolles Talent sich seitdem auf eine Höhe geschwungen hat, wohin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/40>, abgerufen am 29.04.2024.