Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dmitri Mereshkowsky

sich die Blicke der Literatur- und Kunstfreunde in einem großen Teil des west¬
lichen Europas aufmerksam und gespannt richten. Es scheint sogar, daß er
außerhalb seiner Heimat noch wärmere Anerkennung findet als bei seinen
Landsleuten. Sie bewundern zwar die ungewöhnliche Fülle seines Wissens,
den Glanz seiner Sprache und die Begeisterung, die seinem Temperament ent¬
strömt. Aber sie finden, daß sich bei ihm das eigentliche Russentum in einer
Art Zersetzung befindet, die ihnen ungelöste Rätsel aufgibt. Sie haben den
Punkt noch nicht entdeckt, aus dem sich die Persönlichkeit dieses eigenartigen
Kopfes voll verstehen läßt. In der Tat wogt und wallt in ihni erstaunlich
viel durcheinander und nicht alles hat sich bisher in ihm zu voller Klarheit
kristallisiert. Er begann als Lyriker mit dem ungezügelten Jünglingsschwung,
der nach den Sternen greifen will, wurde dann ein Kritiker, der die Bewertung
zeitgenössischer Dichter auf einen persönlichen Ton stimmte, warf sich hierauf
als Romandichter auf die Gestaltung großer Kulturepochen der Menschheit und
ist nun beim Drama angelangt, das ihn ebenfalls auf einem kühnen Eroberungs¬
zug zeigt. Mit einem so breiten Flügelschlagen, das kein ruhiges Verweilen
kennt, wissen die selbstzufriedenen Pilger unten in: Tal nichts Rechtes anzufangen.
Der in Se. Petersburg geborene und auf der dortigen Hochschule ausgebildete
Mann ist ihnen ein seltsam schweifender Geist, der die europäischen Grenzpfähle
nicht beachtet und mit seinen Arbeiten den Registrierapparat ihrer Ästhetik in
Unordnung bringt.

Schon Ende der achtziger Jahre begann sich um ihn eine Gemeinde zu
bilden, als er im Jünglingsrausch glühender Empfindungen durch die Literatur
stürmte und sich als Verskünstler mit der "Süßen Sünde" und dem "Olympischen
Gelächter" einen Thron zu errichten versuchte. Seine Gedichte sind nicht bis
zu uns gedrungen, weil es ihnen wie der übrigen modernen Lyrik Rußlands
an einem deutschen Übersetzer fehlt, der ihrem zitternden Farbenspiel und ihren
zerrissenen Akkorden voll gerecht werden kann. Einzelnes hat Friedrich Fiedler
in seiner Anthologie "Russischer Parnaß" verdienstvoll wiedergegeben. Aber
selbst ein Meister wie Bodenstedt wäre kaum imstande gewesen, die feinen
Unterschiede erkennen zu lassen, die sich auf diesem Gebiet im Kreise der
Dekadenten und Symbolisten bemerkbar machen. Dmitri Ssergejewitsch fühlt
sich als Künstler einsam in einer Zeit, die für ihn einen tiefen Verfall des
Schönen bedeutet und an Größe arm geworden ist. Aber er erwartet gläubig
die Wiederkehr der Götter und sucht die Wege, auf denen wir ihnen aufs
neue begegnen können. Er stellt sich neben Männer wie Brussow, Balmont,
Alexander Block und Gorodetzky, die den seit Puschkins Tagen überlieferten
Sprachreichtum zu neuen Formen und Rhythmen ausprägen. Zu diesen modernen
Talenten der Lyrik gehört auch seine eigene Frau, Zinaida Hippius, deren
Phantasie von der Alltagswelt nichts wissen will und sich nur im Bereich des
Ungelösten und Übersinnlichen wohlftthlt. Mereshkowsky hat sich auch durch
seine vortrefflichen Übersetzungen des Äschylus, Sophokles und Euripides als


Dmitri Mereshkowsky

sich die Blicke der Literatur- und Kunstfreunde in einem großen Teil des west¬
lichen Europas aufmerksam und gespannt richten. Es scheint sogar, daß er
außerhalb seiner Heimat noch wärmere Anerkennung findet als bei seinen
Landsleuten. Sie bewundern zwar die ungewöhnliche Fülle seines Wissens,
den Glanz seiner Sprache und die Begeisterung, die seinem Temperament ent¬
strömt. Aber sie finden, daß sich bei ihm das eigentliche Russentum in einer
Art Zersetzung befindet, die ihnen ungelöste Rätsel aufgibt. Sie haben den
Punkt noch nicht entdeckt, aus dem sich die Persönlichkeit dieses eigenartigen
Kopfes voll verstehen läßt. In der Tat wogt und wallt in ihni erstaunlich
viel durcheinander und nicht alles hat sich bisher in ihm zu voller Klarheit
kristallisiert. Er begann als Lyriker mit dem ungezügelten Jünglingsschwung,
der nach den Sternen greifen will, wurde dann ein Kritiker, der die Bewertung
zeitgenössischer Dichter auf einen persönlichen Ton stimmte, warf sich hierauf
als Romandichter auf die Gestaltung großer Kulturepochen der Menschheit und
ist nun beim Drama angelangt, das ihn ebenfalls auf einem kühnen Eroberungs¬
zug zeigt. Mit einem so breiten Flügelschlagen, das kein ruhiges Verweilen
kennt, wissen die selbstzufriedenen Pilger unten in: Tal nichts Rechtes anzufangen.
Der in Se. Petersburg geborene und auf der dortigen Hochschule ausgebildete
Mann ist ihnen ein seltsam schweifender Geist, der die europäischen Grenzpfähle
nicht beachtet und mit seinen Arbeiten den Registrierapparat ihrer Ästhetik in
Unordnung bringt.

Schon Ende der achtziger Jahre begann sich um ihn eine Gemeinde zu
bilden, als er im Jünglingsrausch glühender Empfindungen durch die Literatur
stürmte und sich als Verskünstler mit der „Süßen Sünde" und dem „Olympischen
Gelächter" einen Thron zu errichten versuchte. Seine Gedichte sind nicht bis
zu uns gedrungen, weil es ihnen wie der übrigen modernen Lyrik Rußlands
an einem deutschen Übersetzer fehlt, der ihrem zitternden Farbenspiel und ihren
zerrissenen Akkorden voll gerecht werden kann. Einzelnes hat Friedrich Fiedler
in seiner Anthologie „Russischer Parnaß" verdienstvoll wiedergegeben. Aber
selbst ein Meister wie Bodenstedt wäre kaum imstande gewesen, die feinen
Unterschiede erkennen zu lassen, die sich auf diesem Gebiet im Kreise der
Dekadenten und Symbolisten bemerkbar machen. Dmitri Ssergejewitsch fühlt
sich als Künstler einsam in einer Zeit, die für ihn einen tiefen Verfall des
Schönen bedeutet und an Größe arm geworden ist. Aber er erwartet gläubig
die Wiederkehr der Götter und sucht die Wege, auf denen wir ihnen aufs
neue begegnen können. Er stellt sich neben Männer wie Brussow, Balmont,
Alexander Block und Gorodetzky, die den seit Puschkins Tagen überlieferten
Sprachreichtum zu neuen Formen und Rhythmen ausprägen. Zu diesen modernen
Talenten der Lyrik gehört auch seine eigene Frau, Zinaida Hippius, deren
Phantasie von der Alltagswelt nichts wissen will und sich nur im Bereich des
Ungelösten und Übersinnlichen wohlftthlt. Mereshkowsky hat sich auch durch
seine vortrefflichen Übersetzungen des Äschylus, Sophokles und Euripides als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0041" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316992"/>
          <fw type="header" place="top"> Dmitri Mereshkowsky</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_113" prev="#ID_112"> sich die Blicke der Literatur- und Kunstfreunde in einem großen Teil des west¬<lb/>
lichen Europas aufmerksam und gespannt richten. Es scheint sogar, daß er<lb/>
außerhalb seiner Heimat noch wärmere Anerkennung findet als bei seinen<lb/>
Landsleuten. Sie bewundern zwar die ungewöhnliche Fülle seines Wissens,<lb/>
den Glanz seiner Sprache und die Begeisterung, die seinem Temperament ent¬<lb/>
strömt. Aber sie finden, daß sich bei ihm das eigentliche Russentum in einer<lb/>
Art Zersetzung befindet, die ihnen ungelöste Rätsel aufgibt. Sie haben den<lb/>
Punkt noch nicht entdeckt, aus dem sich die Persönlichkeit dieses eigenartigen<lb/>
Kopfes voll verstehen läßt. In der Tat wogt und wallt in ihni erstaunlich<lb/>
viel durcheinander und nicht alles hat sich bisher in ihm zu voller Klarheit<lb/>
kristallisiert. Er begann als Lyriker mit dem ungezügelten Jünglingsschwung,<lb/>
der nach den Sternen greifen will, wurde dann ein Kritiker, der die Bewertung<lb/>
zeitgenössischer Dichter auf einen persönlichen Ton stimmte, warf sich hierauf<lb/>
als Romandichter auf die Gestaltung großer Kulturepochen der Menschheit und<lb/>
ist nun beim Drama angelangt, das ihn ebenfalls auf einem kühnen Eroberungs¬<lb/>
zug zeigt. Mit einem so breiten Flügelschlagen, das kein ruhiges Verweilen<lb/>
kennt, wissen die selbstzufriedenen Pilger unten in: Tal nichts Rechtes anzufangen.<lb/>
Der in Se. Petersburg geborene und auf der dortigen Hochschule ausgebildete<lb/>
Mann ist ihnen ein seltsam schweifender Geist, der die europäischen Grenzpfähle<lb/>
nicht beachtet und mit seinen Arbeiten den Registrierapparat ihrer Ästhetik in<lb/>
Unordnung bringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_114" next="#ID_115"> Schon Ende der achtziger Jahre begann sich um ihn eine Gemeinde zu<lb/>
bilden, als er im Jünglingsrausch glühender Empfindungen durch die Literatur<lb/>
stürmte und sich als Verskünstler mit der &#x201E;Süßen Sünde" und dem &#x201E;Olympischen<lb/>
Gelächter" einen Thron zu errichten versuchte. Seine Gedichte sind nicht bis<lb/>
zu uns gedrungen, weil es ihnen wie der übrigen modernen Lyrik Rußlands<lb/>
an einem deutschen Übersetzer fehlt, der ihrem zitternden Farbenspiel und ihren<lb/>
zerrissenen Akkorden voll gerecht werden kann. Einzelnes hat Friedrich Fiedler<lb/>
in seiner Anthologie &#x201E;Russischer Parnaß" verdienstvoll wiedergegeben. Aber<lb/>
selbst ein Meister wie Bodenstedt wäre kaum imstande gewesen, die feinen<lb/>
Unterschiede erkennen zu lassen, die sich auf diesem Gebiet im Kreise der<lb/>
Dekadenten und Symbolisten bemerkbar machen. Dmitri Ssergejewitsch fühlt<lb/>
sich als Künstler einsam in einer Zeit, die für ihn einen tiefen Verfall des<lb/>
Schönen bedeutet und an Größe arm geworden ist. Aber er erwartet gläubig<lb/>
die Wiederkehr der Götter und sucht die Wege, auf denen wir ihnen aufs<lb/>
neue begegnen können. Er stellt sich neben Männer wie Brussow, Balmont,<lb/>
Alexander Block und Gorodetzky, die den seit Puschkins Tagen überlieferten<lb/>
Sprachreichtum zu neuen Formen und Rhythmen ausprägen. Zu diesen modernen<lb/>
Talenten der Lyrik gehört auch seine eigene Frau, Zinaida Hippius, deren<lb/>
Phantasie von der Alltagswelt nichts wissen will und sich nur im Bereich des<lb/>
Ungelösten und Übersinnlichen wohlftthlt. Mereshkowsky hat sich auch durch<lb/>
seine vortrefflichen Übersetzungen des Äschylus, Sophokles und Euripides als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0041] Dmitri Mereshkowsky sich die Blicke der Literatur- und Kunstfreunde in einem großen Teil des west¬ lichen Europas aufmerksam und gespannt richten. Es scheint sogar, daß er außerhalb seiner Heimat noch wärmere Anerkennung findet als bei seinen Landsleuten. Sie bewundern zwar die ungewöhnliche Fülle seines Wissens, den Glanz seiner Sprache und die Begeisterung, die seinem Temperament ent¬ strömt. Aber sie finden, daß sich bei ihm das eigentliche Russentum in einer Art Zersetzung befindet, die ihnen ungelöste Rätsel aufgibt. Sie haben den Punkt noch nicht entdeckt, aus dem sich die Persönlichkeit dieses eigenartigen Kopfes voll verstehen läßt. In der Tat wogt und wallt in ihni erstaunlich viel durcheinander und nicht alles hat sich bisher in ihm zu voller Klarheit kristallisiert. Er begann als Lyriker mit dem ungezügelten Jünglingsschwung, der nach den Sternen greifen will, wurde dann ein Kritiker, der die Bewertung zeitgenössischer Dichter auf einen persönlichen Ton stimmte, warf sich hierauf als Romandichter auf die Gestaltung großer Kulturepochen der Menschheit und ist nun beim Drama angelangt, das ihn ebenfalls auf einem kühnen Eroberungs¬ zug zeigt. Mit einem so breiten Flügelschlagen, das kein ruhiges Verweilen kennt, wissen die selbstzufriedenen Pilger unten in: Tal nichts Rechtes anzufangen. Der in Se. Petersburg geborene und auf der dortigen Hochschule ausgebildete Mann ist ihnen ein seltsam schweifender Geist, der die europäischen Grenzpfähle nicht beachtet und mit seinen Arbeiten den Registrierapparat ihrer Ästhetik in Unordnung bringt. Schon Ende der achtziger Jahre begann sich um ihn eine Gemeinde zu bilden, als er im Jünglingsrausch glühender Empfindungen durch die Literatur stürmte und sich als Verskünstler mit der „Süßen Sünde" und dem „Olympischen Gelächter" einen Thron zu errichten versuchte. Seine Gedichte sind nicht bis zu uns gedrungen, weil es ihnen wie der übrigen modernen Lyrik Rußlands an einem deutschen Übersetzer fehlt, der ihrem zitternden Farbenspiel und ihren zerrissenen Akkorden voll gerecht werden kann. Einzelnes hat Friedrich Fiedler in seiner Anthologie „Russischer Parnaß" verdienstvoll wiedergegeben. Aber selbst ein Meister wie Bodenstedt wäre kaum imstande gewesen, die feinen Unterschiede erkennen zu lassen, die sich auf diesem Gebiet im Kreise der Dekadenten und Symbolisten bemerkbar machen. Dmitri Ssergejewitsch fühlt sich als Künstler einsam in einer Zeit, die für ihn einen tiefen Verfall des Schönen bedeutet und an Größe arm geworden ist. Aber er erwartet gläubig die Wiederkehr der Götter und sucht die Wege, auf denen wir ihnen aufs neue begegnen können. Er stellt sich neben Männer wie Brussow, Balmont, Alexander Block und Gorodetzky, die den seit Puschkins Tagen überlieferten Sprachreichtum zu neuen Formen und Rhythmen ausprägen. Zu diesen modernen Talenten der Lyrik gehört auch seine eigene Frau, Zinaida Hippius, deren Phantasie von der Alltagswelt nichts wissen will und sich nur im Bereich des Ungelösten und Übersinnlichen wohlftthlt. Mereshkowsky hat sich auch durch seine vortrefflichen Übersetzungen des Äschylus, Sophokles und Euripides als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/41
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/41>, abgerufen am 15.05.2024.