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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze zum Vorentwurf eines neuen
deutschen Strafgesetzbuches
Dr, Ernst Sontag von Amtsrichter
Von Lid und Meineid im Vorentwurf eines neuen deutschen Strafgesetzbuches
und dein Entwurf einer neuen deutschen Strafprozeßordnung.

HW in ernstes ethisches Problem unserer Zeit taucht auf, wenn wir
KM uns der Frage nähern: Wie hat sich der Vorentwurf des Straf-
Zd" gesetzbuches und der in diesem Zusammenhange unlösbar mit-
zubehcmdelnde Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung zur
^ Regelung der Eidesmaterie gestellt?

Das geltende Strafgesetzbuch gruppiert den Meineid zwischen das Münz¬
verbrechen und die falsche Anschuldigung und erblickt in dem Meineid, wie das
Reichsgericht mehrfach ausgesprochen hat, auch ein Verbrechen gegen die Religion.
Der Vorentwurf behandelt den Meineid unter der Rubrik "Verbrechen und
Vergehen in Beziehung auf die Rechtspflege". Es gewinnt danach den Anschein,
als erblicke er das bei dem Meineid zu ahndende Delikt ausschließlich in der
Gefährdung und Irreführung der Rechtspflege, welche auf der falschen Aussage
wie auf einer richtigen bauend, zu ungerechten Sprüchen kommen kann.

Ob dieser Übergang vom Neligionsdelikt zum Verbrechen gegen die Staats¬
sicherheit konsequent vollzogen ist, bleibt noch unten zu prüfen. Wie bedeutend
er wäre, dafür sei das volle Verständnis durch eine historische Abschweifung
eröffnet, die ihre Berechtigung wohl auch um ihrer allgemein interessanten Tat¬
sachen willen hat.

Die Römer der klassischen Zeit hatten mit ihrem feinen juristischen Unter-
scheioungsvermögen erkannt, daß im Meineid zwei verschiedene kriminelle Tat¬
bestandsmerkmale liegen, einmal der Frevel gegen die Gottheit, soweit diese
fälschlich zum Zeugen angerufen wird, und zweitens der Eingriff in die Rechts¬
güter des einzelnen und des Staates, soweit durch eine falsche Aussage ein
Angeklagter oder eine Partei geschädigt und das Interesse des Staates an
sicherer Rechtsfmdung gefährdet wird. Demgemäß bestraften die Römer letzteres
Delikt, die wissentlich falsche Aussage, mit den irdischen, ihnen zu Gebote




Kritische Aufsätze zum Vorentwurf eines neuen
deutschen Strafgesetzbuches
Dr, Ernst Sontag von Amtsrichter
Von Lid und Meineid im Vorentwurf eines neuen deutschen Strafgesetzbuches
und dein Entwurf einer neuen deutschen Strafprozeßordnung.

HW in ernstes ethisches Problem unserer Zeit taucht auf, wenn wir
KM uns der Frage nähern: Wie hat sich der Vorentwurf des Straf-
Zd« gesetzbuches und der in diesem Zusammenhange unlösbar mit-
zubehcmdelnde Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung zur
^ Regelung der Eidesmaterie gestellt?

Das geltende Strafgesetzbuch gruppiert den Meineid zwischen das Münz¬
verbrechen und die falsche Anschuldigung und erblickt in dem Meineid, wie das
Reichsgericht mehrfach ausgesprochen hat, auch ein Verbrechen gegen die Religion.
Der Vorentwurf behandelt den Meineid unter der Rubrik „Verbrechen und
Vergehen in Beziehung auf die Rechtspflege". Es gewinnt danach den Anschein,
als erblicke er das bei dem Meineid zu ahndende Delikt ausschließlich in der
Gefährdung und Irreführung der Rechtspflege, welche auf der falschen Aussage
wie auf einer richtigen bauend, zu ungerechten Sprüchen kommen kann.

Ob dieser Übergang vom Neligionsdelikt zum Verbrechen gegen die Staats¬
sicherheit konsequent vollzogen ist, bleibt noch unten zu prüfen. Wie bedeutend
er wäre, dafür sei das volle Verständnis durch eine historische Abschweifung
eröffnet, die ihre Berechtigung wohl auch um ihrer allgemein interessanten Tat¬
sachen willen hat.

Die Römer der klassischen Zeit hatten mit ihrem feinen juristischen Unter-
scheioungsvermögen erkannt, daß im Meineid zwei verschiedene kriminelle Tat¬
bestandsmerkmale liegen, einmal der Frevel gegen die Gottheit, soweit diese
fälschlich zum Zeugen angerufen wird, und zweitens der Eingriff in die Rechts¬
güter des einzelnen und des Staates, soweit durch eine falsche Aussage ein
Angeklagter oder eine Partei geschädigt und das Interesse des Staates an
sicherer Rechtsfmdung gefährdet wird. Demgemäß bestraften die Römer letzteres
Delikt, die wissentlich falsche Aussage, mit den irdischen, ihnen zu Gebote


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[0479] [Abbildung] Kritische Aufsätze zum Vorentwurf eines neuen deutschen Strafgesetzbuches Dr, Ernst Sontag von Amtsrichter Von Lid und Meineid im Vorentwurf eines neuen deutschen Strafgesetzbuches und dein Entwurf einer neuen deutschen Strafprozeßordnung. HW in ernstes ethisches Problem unserer Zeit taucht auf, wenn wir KM uns der Frage nähern: Wie hat sich der Vorentwurf des Straf- Zd« gesetzbuches und der in diesem Zusammenhange unlösbar mit- zubehcmdelnde Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung zur ^ Regelung der Eidesmaterie gestellt? Das geltende Strafgesetzbuch gruppiert den Meineid zwischen das Münz¬ verbrechen und die falsche Anschuldigung und erblickt in dem Meineid, wie das Reichsgericht mehrfach ausgesprochen hat, auch ein Verbrechen gegen die Religion. Der Vorentwurf behandelt den Meineid unter der Rubrik „Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Rechtspflege". Es gewinnt danach den Anschein, als erblicke er das bei dem Meineid zu ahndende Delikt ausschließlich in der Gefährdung und Irreführung der Rechtspflege, welche auf der falschen Aussage wie auf einer richtigen bauend, zu ungerechten Sprüchen kommen kann. Ob dieser Übergang vom Neligionsdelikt zum Verbrechen gegen die Staats¬ sicherheit konsequent vollzogen ist, bleibt noch unten zu prüfen. Wie bedeutend er wäre, dafür sei das volle Verständnis durch eine historische Abschweifung eröffnet, die ihre Berechtigung wohl auch um ihrer allgemein interessanten Tat¬ sachen willen hat. Die Römer der klassischen Zeit hatten mit ihrem feinen juristischen Unter- scheioungsvermögen erkannt, daß im Meineid zwei verschiedene kriminelle Tat¬ bestandsmerkmale liegen, einmal der Frevel gegen die Gottheit, soweit diese fälschlich zum Zeugen angerufen wird, und zweitens der Eingriff in die Rechts¬ güter des einzelnen und des Staates, soweit durch eine falsche Aussage ein Angeklagter oder eine Partei geschädigt und das Interesse des Staates an sicherer Rechtsfmdung gefährdet wird. Demgemäß bestraften die Römer letzteres Delikt, die wissentlich falsche Aussage, mit den irdischen, ihnen zu Gebote

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/479>, abgerufen am 29.04.2024.