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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

stehenden Strafen, überließen aber die Ahndung des Meineids, d. h. des Frevels
gegen die Götter, diesen selbst "cleorum injurias 6Ü8 aurae".

Diese feine Distinktion war im Drange der Völkerwanderung verloren
gegangen. Als aus deren Chaos sich das Reich der Karolinger erhob, da saß
bei neuer Gesetzesarbeit nicht die juristische Wissenschaft,' sondern die Gottes-
gelahrtheit mit zu Rate, und so dekretierte Kaiser Karl der Große in seinen
Kapitularien: Der Meineid ist ein Frevel gegen den allwissenden Gott der
Wahrheit, eine Verhöhnung der göttlichen Majestät, ein vom Staate zu ahndendes
Religionsverbrechen, "nullam recismptionem act, nisi manum perä-le"
(capit. a. 779). Es ist etwas von der alten Talion in dieser Strafe: an der
Hand, welche sich zu dem Gottesbilde emporgereckt, welche sich auf das Kruzifix
oder den Reliquienschrein gesenkt, aber trotzdem einen Meineid geschworen hatte,
sollte der Frevel gesühnt werden.

In diesem Kapitulare ist die Anschauung begründet, welche sich durch das
ganze Mittelalter hinzieht: der Meineid ist ein Neligionsverbrechen, er ist eine
Unterart der Gotteslästerung. Als solche qualifizieren ihn die einzelnen Stadt¬
rechte, als solche sieht ihn das kanonische Recht an. Auch das Zeitalter der
Renaissance bringt hier keinen Umschwung der Rechtsanschauung. Wohl hat man
die römischen Rechtsquellen entdeckt, allein man steht der Scheidung zwischen
5k8 und ju8 verständnislos gegenüber. Dem im Banne mittelalterlicher Welt¬
anschauung aufgewachsenen Juristen erscheint es wie ein Frevel, daß der Römer
den Meineid, d. h. das reine gegen die Götter begangene Delikt, nicht ahndet.
Italienische, französische, deutsche und holländische Juristen des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts machen die verzweifeltsten Anstrengungen, in die
juristischen Quellen eine Bestrafung des Meineids hinein zu interpretieren, da
sie sie nicht herauslesen können; natürlich gelingt ihnen jenes mit scholastischer
Spitzfindigkeit, und sie gelangen zu dein Resultate, daß der Meineid ein direkt
gegen Gott gerichtetes Verbrechen ist. Tiberius Decicmus versteigt sich sogar
zu der kühnen These, daß der Meineid ein schwereres Delikt als der Totschlag
sei, weil jener eine Mißachtung Gottes, dieser nur eine Mißachtung der Menschen
enthalte. Deshalb bedauert er auch die "Ievita8 poenarum", die auf den
Meineid stehen, nämlich Ausreißen der Zunge und Abdanken der Hand. Nur
ein Lichtblick zeigt sich in diesem juristischen Dunkel, das ist die Peinliche Hals¬
gerichtsordnung Kaiser Karls des Fünften. Zwar stellt auch sie den Meineid
zwischen Gotteslästerung und Zauberei, aber indem sie nur zwei Arten des
Meineids kennt, nämlich den falschen Zeugeneid im Zivilprozesse, geleistet in
der Absicht, einen anderen um Vermögen zu bringen, und den falschen Zeugeneid,
geleistet in: Kriminalprozeß, um einem Unschuldigen Strafe zuzuziehen, beweist
sie, daß sie nicht die Mißachtung Gottes, sondern die Irreführung irdischer
Justiz und die Schädigung irdischer Individuen strafen will. Die volle Los¬
lösung vom religiösen Delikt bringt erst der Freidenker auf dem Throne der
Habsburger, Kaiser Joseph der Zweite (1787). Sein Strafgesetzbuch straft den


Kritische Aufsätze

stehenden Strafen, überließen aber die Ahndung des Meineids, d. h. des Frevels
gegen die Götter, diesen selbst „cleorum injurias 6Ü8 aurae".

Diese feine Distinktion war im Drange der Völkerwanderung verloren
gegangen. Als aus deren Chaos sich das Reich der Karolinger erhob, da saß
bei neuer Gesetzesarbeit nicht die juristische Wissenschaft,' sondern die Gottes-
gelahrtheit mit zu Rate, und so dekretierte Kaiser Karl der Große in seinen
Kapitularien: Der Meineid ist ein Frevel gegen den allwissenden Gott der
Wahrheit, eine Verhöhnung der göttlichen Majestät, ein vom Staate zu ahndendes
Religionsverbrechen, „nullam recismptionem act, nisi manum perä-le"
(capit. a. 779). Es ist etwas von der alten Talion in dieser Strafe: an der
Hand, welche sich zu dem Gottesbilde emporgereckt, welche sich auf das Kruzifix
oder den Reliquienschrein gesenkt, aber trotzdem einen Meineid geschworen hatte,
sollte der Frevel gesühnt werden.

In diesem Kapitulare ist die Anschauung begründet, welche sich durch das
ganze Mittelalter hinzieht: der Meineid ist ein Neligionsverbrechen, er ist eine
Unterart der Gotteslästerung. Als solche qualifizieren ihn die einzelnen Stadt¬
rechte, als solche sieht ihn das kanonische Recht an. Auch das Zeitalter der
Renaissance bringt hier keinen Umschwung der Rechtsanschauung. Wohl hat man
die römischen Rechtsquellen entdeckt, allein man steht der Scheidung zwischen
5k8 und ju8 verständnislos gegenüber. Dem im Banne mittelalterlicher Welt¬
anschauung aufgewachsenen Juristen erscheint es wie ein Frevel, daß der Römer
den Meineid, d. h. das reine gegen die Götter begangene Delikt, nicht ahndet.
Italienische, französische, deutsche und holländische Juristen des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts machen die verzweifeltsten Anstrengungen, in die
juristischen Quellen eine Bestrafung des Meineids hinein zu interpretieren, da
sie sie nicht herauslesen können; natürlich gelingt ihnen jenes mit scholastischer
Spitzfindigkeit, und sie gelangen zu dein Resultate, daß der Meineid ein direkt
gegen Gott gerichtetes Verbrechen ist. Tiberius Decicmus versteigt sich sogar
zu der kühnen These, daß der Meineid ein schwereres Delikt als der Totschlag
sei, weil jener eine Mißachtung Gottes, dieser nur eine Mißachtung der Menschen
enthalte. Deshalb bedauert er auch die „Ievita8 poenarum", die auf den
Meineid stehen, nämlich Ausreißen der Zunge und Abdanken der Hand. Nur
ein Lichtblick zeigt sich in diesem juristischen Dunkel, das ist die Peinliche Hals¬
gerichtsordnung Kaiser Karls des Fünften. Zwar stellt auch sie den Meineid
zwischen Gotteslästerung und Zauberei, aber indem sie nur zwei Arten des
Meineids kennt, nämlich den falschen Zeugeneid im Zivilprozesse, geleistet in
der Absicht, einen anderen um Vermögen zu bringen, und den falschen Zeugeneid,
geleistet in: Kriminalprozeß, um einem Unschuldigen Strafe zuzuziehen, beweist
sie, daß sie nicht die Mißachtung Gottes, sondern die Irreführung irdischer
Justiz und die Schädigung irdischer Individuen strafen will. Die volle Los¬
lösung vom religiösen Delikt bringt erst der Freidenker auf dem Throne der
Habsburger, Kaiser Joseph der Zweite (1787). Sein Strafgesetzbuch straft den


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[0480] Kritische Aufsätze stehenden Strafen, überließen aber die Ahndung des Meineids, d. h. des Frevels gegen die Götter, diesen selbst „cleorum injurias 6Ü8 aurae". Diese feine Distinktion war im Drange der Völkerwanderung verloren gegangen. Als aus deren Chaos sich das Reich der Karolinger erhob, da saß bei neuer Gesetzesarbeit nicht die juristische Wissenschaft,' sondern die Gottes- gelahrtheit mit zu Rate, und so dekretierte Kaiser Karl der Große in seinen Kapitularien: Der Meineid ist ein Frevel gegen den allwissenden Gott der Wahrheit, eine Verhöhnung der göttlichen Majestät, ein vom Staate zu ahndendes Religionsverbrechen, „nullam recismptionem act, nisi manum perä-le" (capit. a. 779). Es ist etwas von der alten Talion in dieser Strafe: an der Hand, welche sich zu dem Gottesbilde emporgereckt, welche sich auf das Kruzifix oder den Reliquienschrein gesenkt, aber trotzdem einen Meineid geschworen hatte, sollte der Frevel gesühnt werden. In diesem Kapitulare ist die Anschauung begründet, welche sich durch das ganze Mittelalter hinzieht: der Meineid ist ein Neligionsverbrechen, er ist eine Unterart der Gotteslästerung. Als solche qualifizieren ihn die einzelnen Stadt¬ rechte, als solche sieht ihn das kanonische Recht an. Auch das Zeitalter der Renaissance bringt hier keinen Umschwung der Rechtsanschauung. Wohl hat man die römischen Rechtsquellen entdeckt, allein man steht der Scheidung zwischen 5k8 und ju8 verständnislos gegenüber. Dem im Banne mittelalterlicher Welt¬ anschauung aufgewachsenen Juristen erscheint es wie ein Frevel, daß der Römer den Meineid, d. h. das reine gegen die Götter begangene Delikt, nicht ahndet. Italienische, französische, deutsche und holländische Juristen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts machen die verzweifeltsten Anstrengungen, in die juristischen Quellen eine Bestrafung des Meineids hinein zu interpretieren, da sie sie nicht herauslesen können; natürlich gelingt ihnen jenes mit scholastischer Spitzfindigkeit, und sie gelangen zu dein Resultate, daß der Meineid ein direkt gegen Gott gerichtetes Verbrechen ist. Tiberius Decicmus versteigt sich sogar zu der kühnen These, daß der Meineid ein schwereres Delikt als der Totschlag sei, weil jener eine Mißachtung Gottes, dieser nur eine Mißachtung der Menschen enthalte. Deshalb bedauert er auch die „Ievita8 poenarum", die auf den Meineid stehen, nämlich Ausreißen der Zunge und Abdanken der Hand. Nur ein Lichtblick zeigt sich in diesem juristischen Dunkel, das ist die Peinliche Hals¬ gerichtsordnung Kaiser Karls des Fünften. Zwar stellt auch sie den Meineid zwischen Gotteslästerung und Zauberei, aber indem sie nur zwei Arten des Meineids kennt, nämlich den falschen Zeugeneid im Zivilprozesse, geleistet in der Absicht, einen anderen um Vermögen zu bringen, und den falschen Zeugeneid, geleistet in: Kriminalprozeß, um einem Unschuldigen Strafe zuzuziehen, beweist sie, daß sie nicht die Mißachtung Gottes, sondern die Irreführung irdischer Justiz und die Schädigung irdischer Individuen strafen will. Die volle Los¬ lösung vom religiösen Delikt bringt erst der Freidenker auf dem Throne der Habsburger, Kaiser Joseph der Zweite (1787). Sein Strafgesetzbuch straft den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/480>, abgerufen am 16.05.2024.