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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Die Etatsrede des Kanzlers -- Der Zentralverband Deutscher Industrieller --
Seine Stellung zum Bunde der Landwirte und zum Hansabunde -- Die Katheder¬
sozialisten.

Die politische Atmosphäre ist so von Sensation geschwängert, daß man
kaum bis zu den ernsten Arbeiten in der Politik durchzudringen vermag. Wenn man
allein der Dinge gedenkt, die während der letzten Woche auf uns eingestürmt sind,
schwindelt der Kops. Da ist der Fall Dammann, die Begnadigung der Borussen,
die Affäre Martin spähn, der Professorenstreit in Berlin, da sind die Begleit¬
erscheinungen der Wahl von Labiau-Wehlau, der Prozeß Rechenberg--Roy; seit
Wochen schon beunruhigen uns der Moabiter Krawallprozeß und der Streit des
konservativen Landrath Freiherrn von Maltzahn mit dem liberalen Gutsbesitzer
Becker; seit Monaten werden wir durch den immer schärfer werdenden Kampf zwischen
den: Bunde der Landwirte und dem Hansabunde in Atem gehalten. Inmitten
aller dieser Vorkommnisse wirkt die Rede des Herrn Reichskanzlers erfrischend,
die er am gestrigen Sonnabend bei der ersten Lesung des Etats im Reichstage
gehalten hat. Die Rede zeichnete sich, abgesehen von der Sachlichkeit, die wir bei
Herrn von Bethmann Hollweg stets bemerkt haben, auch durch Temperament aus,
das wir bisher stets vermißten. Der rote Faden der Ausführungen ist wohl zu
suchen in der Betonung des Willens zur Ausübung der Macht durch den Leiter
der Regierung. "Ich mache mich nicht zum Werkzeug der Machtpolitik irgendeiner
Partei, welcher Seite sie auch angehören möge... ich diene nicht dem Parlament,
auch nicht den Junkern, so wenig wie Ihnen (zu den Sozialdemokraten) ...
Ich kann nicht den Eindruck im Lande aufkommen lassen, als bedürfe die Re¬
gierung eines besonderen Ansporns ... So gut es der Staat anerkannt hat ...
Fürsorge zu treiben, genau so ist es seine Pflicht, alle gewaltsamen, gesetzwidrigen
Angriffe auf seine Ordnung und auf die friedliche Entwicklung des Staatswesens
unter Anwendung aller zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel mit rücksichts¬
loser Energie niederzuschlagen. Diese Energie wird in gleichem Maße wachsen
wie die Heftigkeit der Angriffe." Neben diesem erfreulichen Bekenntnis zur Staats¬
autorität steht die Bezeugung der Achtung vor der Verfassung. "Vorschläge zu
Ausnahmegesetzen mache ich Ihnen (zu den Konservativen) nicht!" und "Ich stelle mich
durchaus nicht auf den Standpunkt, daß die Parteien, die den gegenwärtigen
gesetzlichen Zustand für ... unzulänglich erachten, wenn sie dies hier erklären, was
ihren Wählern gegenüber ihre Pflicht und der Regierung gegenüber ihr gutes
Recht ist, gleichzeitig bestimmte Gesetzesvorschläge machen sollten. Im Gegenteil,
es ist absolut Pflicht der Regierung, ihrerseits mit Vorschlägen hervorzutreten ..."




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Die Etatsrede des Kanzlers — Der Zentralverband Deutscher Industrieller —
Seine Stellung zum Bunde der Landwirte und zum Hansabunde — Die Katheder¬
sozialisten.

Die politische Atmosphäre ist so von Sensation geschwängert, daß man
kaum bis zu den ernsten Arbeiten in der Politik durchzudringen vermag. Wenn man
allein der Dinge gedenkt, die während der letzten Woche auf uns eingestürmt sind,
schwindelt der Kops. Da ist der Fall Dammann, die Begnadigung der Borussen,
die Affäre Martin spähn, der Professorenstreit in Berlin, da sind die Begleit¬
erscheinungen der Wahl von Labiau-Wehlau, der Prozeß Rechenberg—Roy; seit
Wochen schon beunruhigen uns der Moabiter Krawallprozeß und der Streit des
konservativen Landrath Freiherrn von Maltzahn mit dem liberalen Gutsbesitzer
Becker; seit Monaten werden wir durch den immer schärfer werdenden Kampf zwischen
den: Bunde der Landwirte und dem Hansabunde in Atem gehalten. Inmitten
aller dieser Vorkommnisse wirkt die Rede des Herrn Reichskanzlers erfrischend,
die er am gestrigen Sonnabend bei der ersten Lesung des Etats im Reichstage
gehalten hat. Die Rede zeichnete sich, abgesehen von der Sachlichkeit, die wir bei
Herrn von Bethmann Hollweg stets bemerkt haben, auch durch Temperament aus,
das wir bisher stets vermißten. Der rote Faden der Ausführungen ist wohl zu
suchen in der Betonung des Willens zur Ausübung der Macht durch den Leiter
der Regierung. „Ich mache mich nicht zum Werkzeug der Machtpolitik irgendeiner
Partei, welcher Seite sie auch angehören möge... ich diene nicht dem Parlament,
auch nicht den Junkern, so wenig wie Ihnen (zu den Sozialdemokraten) ...
Ich kann nicht den Eindruck im Lande aufkommen lassen, als bedürfe die Re¬
gierung eines besonderen Ansporns ... So gut es der Staat anerkannt hat ...
Fürsorge zu treiben, genau so ist es seine Pflicht, alle gewaltsamen, gesetzwidrigen
Angriffe auf seine Ordnung und auf die friedliche Entwicklung des Staatswesens
unter Anwendung aller zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel mit rücksichts¬
loser Energie niederzuschlagen. Diese Energie wird in gleichem Maße wachsen
wie die Heftigkeit der Angriffe." Neben diesem erfreulichen Bekenntnis zur Staats¬
autorität steht die Bezeugung der Achtung vor der Verfassung. „Vorschläge zu
Ausnahmegesetzen mache ich Ihnen (zu den Konservativen) nicht!" und „Ich stelle mich
durchaus nicht auf den Standpunkt, daß die Parteien, die den gegenwärtigen
gesetzlichen Zustand für ... unzulänglich erachten, wenn sie dies hier erklären, was
ihren Wählern gegenüber ihre Pflicht und der Regierung gegenüber ihr gutes
Recht ist, gleichzeitig bestimmte Gesetzesvorschläge machen sollten. Im Gegenteil,
es ist absolut Pflicht der Regierung, ihrerseits mit Vorschlägen hervorzutreten ..."


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[0542] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel Die Etatsrede des Kanzlers — Der Zentralverband Deutscher Industrieller — Seine Stellung zum Bunde der Landwirte und zum Hansabunde — Die Katheder¬ sozialisten. Die politische Atmosphäre ist so von Sensation geschwängert, daß man kaum bis zu den ernsten Arbeiten in der Politik durchzudringen vermag. Wenn man allein der Dinge gedenkt, die während der letzten Woche auf uns eingestürmt sind, schwindelt der Kops. Da ist der Fall Dammann, die Begnadigung der Borussen, die Affäre Martin spähn, der Professorenstreit in Berlin, da sind die Begleit¬ erscheinungen der Wahl von Labiau-Wehlau, der Prozeß Rechenberg—Roy; seit Wochen schon beunruhigen uns der Moabiter Krawallprozeß und der Streit des konservativen Landrath Freiherrn von Maltzahn mit dem liberalen Gutsbesitzer Becker; seit Monaten werden wir durch den immer schärfer werdenden Kampf zwischen den: Bunde der Landwirte und dem Hansabunde in Atem gehalten. Inmitten aller dieser Vorkommnisse wirkt die Rede des Herrn Reichskanzlers erfrischend, die er am gestrigen Sonnabend bei der ersten Lesung des Etats im Reichstage gehalten hat. Die Rede zeichnete sich, abgesehen von der Sachlichkeit, die wir bei Herrn von Bethmann Hollweg stets bemerkt haben, auch durch Temperament aus, das wir bisher stets vermißten. Der rote Faden der Ausführungen ist wohl zu suchen in der Betonung des Willens zur Ausübung der Macht durch den Leiter der Regierung. „Ich mache mich nicht zum Werkzeug der Machtpolitik irgendeiner Partei, welcher Seite sie auch angehören möge... ich diene nicht dem Parlament, auch nicht den Junkern, so wenig wie Ihnen (zu den Sozialdemokraten) ... Ich kann nicht den Eindruck im Lande aufkommen lassen, als bedürfe die Re¬ gierung eines besonderen Ansporns ... So gut es der Staat anerkannt hat ... Fürsorge zu treiben, genau so ist es seine Pflicht, alle gewaltsamen, gesetzwidrigen Angriffe auf seine Ordnung und auf die friedliche Entwicklung des Staatswesens unter Anwendung aller zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel mit rücksichts¬ loser Energie niederzuschlagen. Diese Energie wird in gleichem Maße wachsen wie die Heftigkeit der Angriffe." Neben diesem erfreulichen Bekenntnis zur Staats¬ autorität steht die Bezeugung der Achtung vor der Verfassung. „Vorschläge zu Ausnahmegesetzen mache ich Ihnen (zu den Konservativen) nicht!" und „Ich stelle mich durchaus nicht auf den Standpunkt, daß die Parteien, die den gegenwärtigen gesetzlichen Zustand für ... unzulänglich erachten, wenn sie dies hier erklären, was ihren Wählern gegenüber ihre Pflicht und der Regierung gegenüber ihr gutes Recht ist, gleichzeitig bestimmte Gesetzesvorschläge machen sollten. Im Gegenteil, es ist absolut Pflicht der Regierung, ihrerseits mit Vorschlägen hervorzutreten ..."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/542>, abgerufen am 29.04.2024.