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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Rute in der Aunst und im Leben

n einem hübschen Kindergedicht von Gustav Pfarrius zählt
die Birke in einem Gespräch mit dem Hausvater alles auf,
was sie zu verschenken hat. Und schon im siebenten und achten
Verse sagt sie zu ihm: "Ich schenke dir eine schwanke Rute, --
die deinen Kindern kommt zugute." Sehen wir näher zu, so
entgeht es uns nicht, daß die "Rute" eine nicht unbedeutende Rolle in der
Dichtung spielt, wo sich die letztere mit der Jugend beschäftigt. Die Phantasie
der Dichter verweilt gern bei jenen gewissermaßen tragischen Begebenheiten aus
dein Jugendleben, bei denen der Erzieher körperliche Schmerzen dem Kinde
zufügt; und es ist auffallend, daß gerade die Anwendung von Schlägen öfters
dichterisch und auch malerisch verwertet wird, während es dem Gebrauch
anderer Erziehungsstrafmittel an der gleichen Beachtung fehlt. Worin hat das
wohl seinen Grund? Und tut die Kunst recht daran, sich eines solchen Gegen¬
standes zu bemächtigen? -- Schiller ("Zerstreute Betrachtungen über verschiedene
ästhetische Gegenstände") bringt die Eigenschaften der Dinge, wodurch sie ästhetisch
werden können, unter viererlei Klassen, nämlich das Angenehme, das Gute, das
Erhabene und das Schöne. Nur das Erhabene und Schöne ist nach Schiller der
Kunst eigen; das Angenehme ist ihrer nicht würdig, und das Gute ist wenigstens
nicht ihr Zweck. Es erscheint klar, daß wir es bei der Darstellung der hier in
Betracht gezogenen Vorgänge aus dem Erziehungsleben nicht mit einem
"erhabenen" Gegenstande zu tun haben. Denn zur Erhabenheit gehört Größe,
und man wird hier, wo es sich um die Wiedergabe alltäglicher Geschehnisse
handelt, nicht von etwas Großem sprechen dürfen. Das gilt jedenfalls für die
Darstellung, insoweit sie auf den erwachsenen Leser, Hörer oder Beschauer
berechnet ist. In der Beziehung zum Kinde freilich entbehrt die Rute und der
durch sie versinnbildlichte Körperschmerz des Außergewöhnlichem und der Größe
nicht ganz.

Insofern es auf Verse und Bilder, die für Kinder bestimmt sind, ankommt,
könnte man sich wegen ihres lehrhaften Zweckes mit der Feststellung begnügen,
daß ihr Ziel das Gute sei. Indes schätzt man damit die Absichten der Verfasser
und Darsteller nicht hoch genug ein. Sie wollen sicher regelmäßig nicht nur das
"Gute", d. h. nicht nur Belehrung, sondern sie wollen wirklich den Zweck der
Kunst, den Zweck, "zu vergnügen", erfüllen. Und dieser Zweck wird auch verstanden
und also erreicht. Wenn Agnes Franz in ihrem bekannten Kindergedicht "Die




Die Rute in der Aunst und im Leben

n einem hübschen Kindergedicht von Gustav Pfarrius zählt
die Birke in einem Gespräch mit dem Hausvater alles auf,
was sie zu verschenken hat. Und schon im siebenten und achten
Verse sagt sie zu ihm: „Ich schenke dir eine schwanke Rute, —
die deinen Kindern kommt zugute." Sehen wir näher zu, so
entgeht es uns nicht, daß die „Rute" eine nicht unbedeutende Rolle in der
Dichtung spielt, wo sich die letztere mit der Jugend beschäftigt. Die Phantasie
der Dichter verweilt gern bei jenen gewissermaßen tragischen Begebenheiten aus
dein Jugendleben, bei denen der Erzieher körperliche Schmerzen dem Kinde
zufügt; und es ist auffallend, daß gerade die Anwendung von Schlägen öfters
dichterisch und auch malerisch verwertet wird, während es dem Gebrauch
anderer Erziehungsstrafmittel an der gleichen Beachtung fehlt. Worin hat das
wohl seinen Grund? Und tut die Kunst recht daran, sich eines solchen Gegen¬
standes zu bemächtigen? — Schiller („Zerstreute Betrachtungen über verschiedene
ästhetische Gegenstände") bringt die Eigenschaften der Dinge, wodurch sie ästhetisch
werden können, unter viererlei Klassen, nämlich das Angenehme, das Gute, das
Erhabene und das Schöne. Nur das Erhabene und Schöne ist nach Schiller der
Kunst eigen; das Angenehme ist ihrer nicht würdig, und das Gute ist wenigstens
nicht ihr Zweck. Es erscheint klar, daß wir es bei der Darstellung der hier in
Betracht gezogenen Vorgänge aus dem Erziehungsleben nicht mit einem
„erhabenen" Gegenstande zu tun haben. Denn zur Erhabenheit gehört Größe,
und man wird hier, wo es sich um die Wiedergabe alltäglicher Geschehnisse
handelt, nicht von etwas Großem sprechen dürfen. Das gilt jedenfalls für die
Darstellung, insoweit sie auf den erwachsenen Leser, Hörer oder Beschauer
berechnet ist. In der Beziehung zum Kinde freilich entbehrt die Rute und der
durch sie versinnbildlichte Körperschmerz des Außergewöhnlichem und der Größe
nicht ganz.

Insofern es auf Verse und Bilder, die für Kinder bestimmt sind, ankommt,
könnte man sich wegen ihres lehrhaften Zweckes mit der Feststellung begnügen,
daß ihr Ziel das Gute sei. Indes schätzt man damit die Absichten der Verfasser
und Darsteller nicht hoch genug ein. Sie wollen sicher regelmäßig nicht nur das
„Gute", d. h. nicht nur Belehrung, sondern sie wollen wirklich den Zweck der
Kunst, den Zweck, „zu vergnügen", erfüllen. Und dieser Zweck wird auch verstanden
und also erreicht. Wenn Agnes Franz in ihrem bekannten Kindergedicht „Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/552>, abgerufen am 29.04.2024.