Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Im Flecke"

Mir scheinen zwei Arten legitim, die Werke anderer Dichter Hinzudichten. Es
kann dem zweiten Dichter nicht verwehrt sein, völlig frei mit dem übernommenen
Werke zu schalten, ganz mit eigener Verantwortung und ganz zum eigenen Ruhme
zu dichten. Unser Geschmack verlangt dann allerdings, daß die Größe der beiden
Dichter nicht allzu different sei. Die zweite Art besteht darin, die bestehenden
Werke in allen ihren Teilen als dichterische Einheiten zu vernehmen und dann
im ganzen und im einzelnen, in Rhythmus, Tonfall, Gebärde und Sinn aufs
treuste nachzubilden.

Rußwurm hat keinen dieser beiden Wege befolgt: zu bescheiden, als Dichter
frei schaffend hervorzutreten, war er doch nicht treu genug, Äschylus nachzubilden.
Er übersetzt außerordentlich frei, läßt vieles fort, setzt Überflüssiges zu, biegt und
ändert. Es sei ihm zugegeben, daß er rein aus künstlerischen Absichten umformt
und nicht kunstfremde Tendenzen in die Dichtung hineinbringt, auch daß er nicht
Prosa oder gemeine Verständlichkeit erstrebt. Auch sei ihm zugegeben, daß eine
adäquate Wiedergabe des Äschylus für die heutige Bühne schwer denkbar ist. Aber
es muß doch dem Leser oder Zuschauer gesagt sein, daß er nicht den Vater der
Tragödie, sondern den Enkel Schillers vernehmen wird.




Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von
Neuntes Kapitel: Besuch aus der Gouvernementsstadt.

Der Winter kehrte zum letzten Mal für dieses Jahr die rauhe Seite heraus.
Es fror, und schneidender, trockner Ostwind machte die an und für sich schon be¬
deutende Kälte empfindlich. Auf der Landstraße gab es abgefrorene Hände und
Füße, und auch im Flecken kam es vor, daß zwei Bekannte einander begegneten
und einer von ihnen statt des Grußes eine Hand voll Schnee aufraffte und dem
anderen ohne Umstände damit in das Gesicht fuhr, um ihm die Nase, das Ohr
oder die Wange aus Leibeskräften zu reiben.

"Väterchen," rief er dabei, "weiß, ganz weiß! Ist das ein Fröstchen! Und
Sie haben selbst wohl gar nichts gemerkt?"

Der Geriebene stand in solchen Fällen regungslos, ließ sich behandeln und
preßte in Absätzen hervor, je nachdem der Reibende ihm den Mund frei ließ:

"Danke, Väterchen, für Ihre Sorge um mich. Etwas gekniffen hat es, aber
ich glaubte nicht, daß es so schlimm wäre. Danke, danke, bemühen Sie sich nicht
zu sehr. Sie werden ermüden."

Sogar in gut geheizten Zinnen fühlte man den Frost, zwar nicht als
wirkliche Kälte, sondern wie einen kühlen Luftzug, der auf dem Gesicht und den
Händen spielte und auf den Unterarmen die sogenannte Gänsehaut hervorrief.
Botscharow wurde dadurch veranlaßt einen wärmeren Rock anzuziehen und rieb


Im Flecke»

Mir scheinen zwei Arten legitim, die Werke anderer Dichter Hinzudichten. Es
kann dem zweiten Dichter nicht verwehrt sein, völlig frei mit dem übernommenen
Werke zu schalten, ganz mit eigener Verantwortung und ganz zum eigenen Ruhme
zu dichten. Unser Geschmack verlangt dann allerdings, daß die Größe der beiden
Dichter nicht allzu different sei. Die zweite Art besteht darin, die bestehenden
Werke in allen ihren Teilen als dichterische Einheiten zu vernehmen und dann
im ganzen und im einzelnen, in Rhythmus, Tonfall, Gebärde und Sinn aufs
treuste nachzubilden.

Rußwurm hat keinen dieser beiden Wege befolgt: zu bescheiden, als Dichter
frei schaffend hervorzutreten, war er doch nicht treu genug, Äschylus nachzubilden.
Er übersetzt außerordentlich frei, läßt vieles fort, setzt Überflüssiges zu, biegt und
ändert. Es sei ihm zugegeben, daß er rein aus künstlerischen Absichten umformt
und nicht kunstfremde Tendenzen in die Dichtung hineinbringt, auch daß er nicht
Prosa oder gemeine Verständlichkeit erstrebt. Auch sei ihm zugegeben, daß eine
adäquate Wiedergabe des Äschylus für die heutige Bühne schwer denkbar ist. Aber
es muß doch dem Leser oder Zuschauer gesagt sein, daß er nicht den Vater der
Tragödie, sondern den Enkel Schillers vernehmen wird.




Im Flecken
Lrzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher von
Neuntes Kapitel: Besuch aus der Gouvernementsstadt.

Der Winter kehrte zum letzten Mal für dieses Jahr die rauhe Seite heraus.
Es fror, und schneidender, trockner Ostwind machte die an und für sich schon be¬
deutende Kälte empfindlich. Auf der Landstraße gab es abgefrorene Hände und
Füße, und auch im Flecken kam es vor, daß zwei Bekannte einander begegneten
und einer von ihnen statt des Grußes eine Hand voll Schnee aufraffte und dem
anderen ohne Umstände damit in das Gesicht fuhr, um ihm die Nase, das Ohr
oder die Wange aus Leibeskräften zu reiben.

„Väterchen," rief er dabei, „weiß, ganz weiß! Ist das ein Fröstchen! Und
Sie haben selbst wohl gar nichts gemerkt?"

Der Geriebene stand in solchen Fällen regungslos, ließ sich behandeln und
preßte in Absätzen hervor, je nachdem der Reibende ihm den Mund frei ließ:

„Danke, Väterchen, für Ihre Sorge um mich. Etwas gekniffen hat es, aber
ich glaubte nicht, daß es so schlimm wäre. Danke, danke, bemühen Sie sich nicht
zu sehr. Sie werden ermüden."

Sogar in gut geheizten Zinnen fühlte man den Frost, zwar nicht als
wirkliche Kälte, sondern wie einen kühlen Luftzug, der auf dem Gesicht und den
Händen spielte und auf den Unterarmen die sogenannte Gänsehaut hervorrief.
Botscharow wurde dadurch veranlaßt einen wärmeren Rock anzuziehen und rieb


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0630" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317581"/>
          <fw type="header" place="top"> Im Flecke»</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3010"> Mir scheinen zwei Arten legitim, die Werke anderer Dichter Hinzudichten. Es<lb/>
kann dem zweiten Dichter nicht verwehrt sein, völlig frei mit dem übernommenen<lb/>
Werke zu schalten, ganz mit eigener Verantwortung und ganz zum eigenen Ruhme<lb/>
zu dichten. Unser Geschmack verlangt dann allerdings, daß die Größe der beiden<lb/>
Dichter nicht allzu different sei. Die zweite Art besteht darin, die bestehenden<lb/>
Werke in allen ihren Teilen als dichterische Einheiten zu vernehmen und dann<lb/>
im ganzen und im einzelnen, in Rhythmus, Tonfall, Gebärde und Sinn aufs<lb/>
treuste nachzubilden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3011"> Rußwurm hat keinen dieser beiden Wege befolgt: zu bescheiden, als Dichter<lb/>
frei schaffend hervorzutreten, war er doch nicht treu genug, Äschylus nachzubilden.<lb/>
Er übersetzt außerordentlich frei, läßt vieles fort, setzt Überflüssiges zu, biegt und<lb/>
ändert. Es sei ihm zugegeben, daß er rein aus künstlerischen Absichten umformt<lb/>
und nicht kunstfremde Tendenzen in die Dichtung hineinbringt, auch daß er nicht<lb/>
Prosa oder gemeine Verständlichkeit erstrebt. Auch sei ihm zugegeben, daß eine<lb/>
adäquate Wiedergabe des Äschylus für die heutige Bühne schwer denkbar ist. Aber<lb/>
es muß doch dem Leser oder Zuschauer gesagt sein, daß er nicht den Vater der<lb/>
Tragödie, sondern den Enkel Schillers vernehmen wird.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Im Flecken<lb/>
Lrzählung aus der russischen Provinz<lb/><note type="byline"> Alexander Andreas-v, Reyher</note> von<lb/>
Neuntes Kapitel: Besuch aus der Gouvernementsstadt.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_3012"> Der Winter kehrte zum letzten Mal für dieses Jahr die rauhe Seite heraus.<lb/>
Es fror, und schneidender, trockner Ostwind machte die an und für sich schon be¬<lb/>
deutende Kälte empfindlich. Auf der Landstraße gab es abgefrorene Hände und<lb/>
Füße, und auch im Flecken kam es vor, daß zwei Bekannte einander begegneten<lb/>
und einer von ihnen statt des Grußes eine Hand voll Schnee aufraffte und dem<lb/>
anderen ohne Umstände damit in das Gesicht fuhr, um ihm die Nase, das Ohr<lb/>
oder die Wange aus Leibeskräften zu reiben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3013"> &#x201E;Väterchen," rief er dabei, &#x201E;weiß, ganz weiß! Ist das ein Fröstchen! Und<lb/>
Sie haben selbst wohl gar nichts gemerkt?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3014"> Der Geriebene stand in solchen Fällen regungslos, ließ sich behandeln und<lb/>
preßte in Absätzen hervor, je nachdem der Reibende ihm den Mund frei ließ:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3015"> &#x201E;Danke, Väterchen, für Ihre Sorge um mich. Etwas gekniffen hat es, aber<lb/>
ich glaubte nicht, daß es so schlimm wäre. Danke, danke, bemühen Sie sich nicht<lb/>
zu sehr. Sie werden ermüden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3016" next="#ID_3017"> Sogar in gut geheizten Zinnen fühlte man den Frost, zwar nicht als<lb/>
wirkliche Kälte, sondern wie einen kühlen Luftzug, der auf dem Gesicht und den<lb/>
Händen spielte und auf den Unterarmen die sogenannte Gänsehaut hervorrief.<lb/>
Botscharow wurde dadurch veranlaßt einen wärmeren Rock anzuziehen und rieb</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0630] Im Flecke» Mir scheinen zwei Arten legitim, die Werke anderer Dichter Hinzudichten. Es kann dem zweiten Dichter nicht verwehrt sein, völlig frei mit dem übernommenen Werke zu schalten, ganz mit eigener Verantwortung und ganz zum eigenen Ruhme zu dichten. Unser Geschmack verlangt dann allerdings, daß die Größe der beiden Dichter nicht allzu different sei. Die zweite Art besteht darin, die bestehenden Werke in allen ihren Teilen als dichterische Einheiten zu vernehmen und dann im ganzen und im einzelnen, in Rhythmus, Tonfall, Gebärde und Sinn aufs treuste nachzubilden. Rußwurm hat keinen dieser beiden Wege befolgt: zu bescheiden, als Dichter frei schaffend hervorzutreten, war er doch nicht treu genug, Äschylus nachzubilden. Er übersetzt außerordentlich frei, läßt vieles fort, setzt Überflüssiges zu, biegt und ändert. Es sei ihm zugegeben, daß er rein aus künstlerischen Absichten umformt und nicht kunstfremde Tendenzen in die Dichtung hineinbringt, auch daß er nicht Prosa oder gemeine Verständlichkeit erstrebt. Auch sei ihm zugegeben, daß eine adäquate Wiedergabe des Äschylus für die heutige Bühne schwer denkbar ist. Aber es muß doch dem Leser oder Zuschauer gesagt sein, daß er nicht den Vater der Tragödie, sondern den Enkel Schillers vernehmen wird. Im Flecken Lrzählung aus der russischen Provinz Alexander Andreas-v, Reyher von Neuntes Kapitel: Besuch aus der Gouvernementsstadt. Der Winter kehrte zum letzten Mal für dieses Jahr die rauhe Seite heraus. Es fror, und schneidender, trockner Ostwind machte die an und für sich schon be¬ deutende Kälte empfindlich. Auf der Landstraße gab es abgefrorene Hände und Füße, und auch im Flecken kam es vor, daß zwei Bekannte einander begegneten und einer von ihnen statt des Grußes eine Hand voll Schnee aufraffte und dem anderen ohne Umstände damit in das Gesicht fuhr, um ihm die Nase, das Ohr oder die Wange aus Leibeskräften zu reiben. „Väterchen," rief er dabei, „weiß, ganz weiß! Ist das ein Fröstchen! Und Sie haben selbst wohl gar nichts gemerkt?" Der Geriebene stand in solchen Fällen regungslos, ließ sich behandeln und preßte in Absätzen hervor, je nachdem der Reibende ihm den Mund frei ließ: „Danke, Väterchen, für Ihre Sorge um mich. Etwas gekniffen hat es, aber ich glaubte nicht, daß es so schlimm wäre. Danke, danke, bemühen Sie sich nicht zu sehr. Sie werden ermüden." Sogar in gut geheizten Zinnen fühlte man den Frost, zwar nicht als wirkliche Kälte, sondern wie einen kühlen Luftzug, der auf dem Gesicht und den Händen spielte und auf den Unterarmen die sogenannte Gänsehaut hervorrief. Botscharow wurde dadurch veranlaßt einen wärmeren Rock anzuziehen und rieb

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/630
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/630>, abgerufen am 29.04.2024.