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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Für das Erbrecht des Reiches

2. Das Interesse der Gemeinden

Nach dem "Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat" von 1910
beläuft sich die Schuldenlast der preußischen Städte und der Landgemeinden
von mehr als zehntausend Einwohnern auf 3000 Millionen Mark, die über
100 Millionen Mark jährlich an Zinsen erfordern. Nach dem Verhältnis der
Einwohnerzahl Preußens zum Deutschen Reich von 3 zu 5 ergibt sich für die
Städte und die Landgemeinden von mehr als zehntausend Einwohnern im
ganzen Reich eine Verschuldung von 5000 Millionen Mark mit einer Zinsenlast
von 150 Millionen Mark. Diese Zahlen erklären es, daß über das Anwachsen
der Gemeindeabgaben allgemein Klage geführt wird. Beträgt doch der Zuschlag
zur Staatseinkommensteucr in einer ganzen Anzahl voll mittleren und kleinen
Städten 200 bis 300 Prozent! Unter diesen Umständen darf die Erschließung
einer neuen Einkommenquelle für die Gemeinden erhöhten Anspruch auf Beachtuug
erheben. Mein Vorschlag eines Neichserbrechts, der dem Gesetzentwurf der
verbündeten Regierungen über das Erbrecht des Staates vom 3. November 1908
teilweise zugrunde gelegt ist, läuft darauf hinaus, daß die Seitenverwandten
außer den Geschwistern nur noch kraft testamentarischer Einsetzung erben sollen,
beim Mangel eines Testaments hingegen an ihrer Stelle das Reich. Der Ertrag
des Reichserbrechts ist auf rund 500 Millionen Mark jährlich berechnet. An
diesen Einkünften soll die Gemeinde, in der der Verstorbene seinen letzten Wohnsitz
gehabt hat, dergestalt beteiligt werden, daß sie für die Sicherung und Fest¬
stellung des Nachlasses 5 Prozent erhält; den Wohnsitzgemeinden wird auf diese
Weise insgesamt eine Mehreinnahme von rund 25 Millionen Mark jährlich
überwiesen, von der nur ein geringer Betrag, etwa wiederum 5 Prozent, an
Kosten in Abzug käme. Der glückliche Gedanke, neben dem Reich die Gemeinde
zu beteiligen, ^rührt von dem freikonservativen Abgeordneten Freiherrn von Gamp
her. Als überzeugter Anhänger der Erbrechtsreform erblickte er darin ein wirksames
Mittel der Propaganda. Von diesem Standpunkt aus machte er mich im
Oktober 1906 darauf aufmerksam, daß bei einer derartigen Modifikation dem
Projekte des Reichserbrechts allgemeinere Popularität zufallen würde. Eine
Beteiligung der Gemeinden ist in der Tat nicht nur aus äußeren, sondern aus
inneren Gründen gerechtfertigt. Das Reich an die Stelle der entfernteren Ver¬
wandten zu setzen, erscheint besonders um deswillen erlaubt und notwendig,
weil wichtige Pflichten, die früher dem Familienverbande oblagen, von Staat
und Reich übernommen sind und weil überdies nur unter dem mächtigen Schutze
des Reiches Vermögen erworben und erhalten wird. Ähnliche Gründe, wenn
auch vou geringerer Stärke, sprechen dafür, daß die Gemeinde, der der Ver¬
storbene angehört hat, einen mäßigen Anteil an seinem Nachlaß erhält, wenn
keine Nahen Angehörigen vorhanden sind und der Erblasser testamentarisch nicht
anders bestimmt hat. In der Regel verdankt der Verstorbene, was er erworben
hat. zu einem Teile auch dem engeren Verbände, der Stadt- oder Landgemeinde,
der er angehörte. Das gilt, wenn auch in verschiedener Weise, für alle Gewerb-


Für das Erbrecht des Reiches

2. Das Interesse der Gemeinden

Nach dem „Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat" von 1910
beläuft sich die Schuldenlast der preußischen Städte und der Landgemeinden
von mehr als zehntausend Einwohnern auf 3000 Millionen Mark, die über
100 Millionen Mark jährlich an Zinsen erfordern. Nach dem Verhältnis der
Einwohnerzahl Preußens zum Deutschen Reich von 3 zu 5 ergibt sich für die
Städte und die Landgemeinden von mehr als zehntausend Einwohnern im
ganzen Reich eine Verschuldung von 5000 Millionen Mark mit einer Zinsenlast
von 150 Millionen Mark. Diese Zahlen erklären es, daß über das Anwachsen
der Gemeindeabgaben allgemein Klage geführt wird. Beträgt doch der Zuschlag
zur Staatseinkommensteucr in einer ganzen Anzahl voll mittleren und kleinen
Städten 200 bis 300 Prozent! Unter diesen Umständen darf die Erschließung
einer neuen Einkommenquelle für die Gemeinden erhöhten Anspruch auf Beachtuug
erheben. Mein Vorschlag eines Neichserbrechts, der dem Gesetzentwurf der
verbündeten Regierungen über das Erbrecht des Staates vom 3. November 1908
teilweise zugrunde gelegt ist, läuft darauf hinaus, daß die Seitenverwandten
außer den Geschwistern nur noch kraft testamentarischer Einsetzung erben sollen,
beim Mangel eines Testaments hingegen an ihrer Stelle das Reich. Der Ertrag
des Reichserbrechts ist auf rund 500 Millionen Mark jährlich berechnet. An
diesen Einkünften soll die Gemeinde, in der der Verstorbene seinen letzten Wohnsitz
gehabt hat, dergestalt beteiligt werden, daß sie für die Sicherung und Fest¬
stellung des Nachlasses 5 Prozent erhält; den Wohnsitzgemeinden wird auf diese
Weise insgesamt eine Mehreinnahme von rund 25 Millionen Mark jährlich
überwiesen, von der nur ein geringer Betrag, etwa wiederum 5 Prozent, an
Kosten in Abzug käme. Der glückliche Gedanke, neben dem Reich die Gemeinde
zu beteiligen, ^rührt von dem freikonservativen Abgeordneten Freiherrn von Gamp
her. Als überzeugter Anhänger der Erbrechtsreform erblickte er darin ein wirksames
Mittel der Propaganda. Von diesem Standpunkt aus machte er mich im
Oktober 1906 darauf aufmerksam, daß bei einer derartigen Modifikation dem
Projekte des Reichserbrechts allgemeinere Popularität zufallen würde. Eine
Beteiligung der Gemeinden ist in der Tat nicht nur aus äußeren, sondern aus
inneren Gründen gerechtfertigt. Das Reich an die Stelle der entfernteren Ver¬
wandten zu setzen, erscheint besonders um deswillen erlaubt und notwendig,
weil wichtige Pflichten, die früher dem Familienverbande oblagen, von Staat
und Reich übernommen sind und weil überdies nur unter dem mächtigen Schutze
des Reiches Vermögen erworben und erhalten wird. Ähnliche Gründe, wenn
auch vou geringerer Stärke, sprechen dafür, daß die Gemeinde, der der Ver¬
storbene angehört hat, einen mäßigen Anteil an seinem Nachlaß erhält, wenn
keine Nahen Angehörigen vorhanden sind und der Erblasser testamentarisch nicht
anders bestimmt hat. In der Regel verdankt der Verstorbene, was er erworben
hat. zu einem Teile auch dem engeren Verbände, der Stadt- oder Landgemeinde,
der er angehörte. Das gilt, wenn auch in verschiedener Weise, für alle Gewerb-


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[0064] Für das Erbrecht des Reiches 2. Das Interesse der Gemeinden Nach dem „Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat" von 1910 beläuft sich die Schuldenlast der preußischen Städte und der Landgemeinden von mehr als zehntausend Einwohnern auf 3000 Millionen Mark, die über 100 Millionen Mark jährlich an Zinsen erfordern. Nach dem Verhältnis der Einwohnerzahl Preußens zum Deutschen Reich von 3 zu 5 ergibt sich für die Städte und die Landgemeinden von mehr als zehntausend Einwohnern im ganzen Reich eine Verschuldung von 5000 Millionen Mark mit einer Zinsenlast von 150 Millionen Mark. Diese Zahlen erklären es, daß über das Anwachsen der Gemeindeabgaben allgemein Klage geführt wird. Beträgt doch der Zuschlag zur Staatseinkommensteucr in einer ganzen Anzahl voll mittleren und kleinen Städten 200 bis 300 Prozent! Unter diesen Umständen darf die Erschließung einer neuen Einkommenquelle für die Gemeinden erhöhten Anspruch auf Beachtuug erheben. Mein Vorschlag eines Neichserbrechts, der dem Gesetzentwurf der verbündeten Regierungen über das Erbrecht des Staates vom 3. November 1908 teilweise zugrunde gelegt ist, läuft darauf hinaus, daß die Seitenverwandten außer den Geschwistern nur noch kraft testamentarischer Einsetzung erben sollen, beim Mangel eines Testaments hingegen an ihrer Stelle das Reich. Der Ertrag des Reichserbrechts ist auf rund 500 Millionen Mark jährlich berechnet. An diesen Einkünften soll die Gemeinde, in der der Verstorbene seinen letzten Wohnsitz gehabt hat, dergestalt beteiligt werden, daß sie für die Sicherung und Fest¬ stellung des Nachlasses 5 Prozent erhält; den Wohnsitzgemeinden wird auf diese Weise insgesamt eine Mehreinnahme von rund 25 Millionen Mark jährlich überwiesen, von der nur ein geringer Betrag, etwa wiederum 5 Prozent, an Kosten in Abzug käme. Der glückliche Gedanke, neben dem Reich die Gemeinde zu beteiligen, ^rührt von dem freikonservativen Abgeordneten Freiherrn von Gamp her. Als überzeugter Anhänger der Erbrechtsreform erblickte er darin ein wirksames Mittel der Propaganda. Von diesem Standpunkt aus machte er mich im Oktober 1906 darauf aufmerksam, daß bei einer derartigen Modifikation dem Projekte des Reichserbrechts allgemeinere Popularität zufallen würde. Eine Beteiligung der Gemeinden ist in der Tat nicht nur aus äußeren, sondern aus inneren Gründen gerechtfertigt. Das Reich an die Stelle der entfernteren Ver¬ wandten zu setzen, erscheint besonders um deswillen erlaubt und notwendig, weil wichtige Pflichten, die früher dem Familienverbande oblagen, von Staat und Reich übernommen sind und weil überdies nur unter dem mächtigen Schutze des Reiches Vermögen erworben und erhalten wird. Ähnliche Gründe, wenn auch vou geringerer Stärke, sprechen dafür, daß die Gemeinde, der der Ver¬ storbene angehört hat, einen mäßigen Anteil an seinem Nachlaß erhält, wenn keine Nahen Angehörigen vorhanden sind und der Erblasser testamentarisch nicht anders bestimmt hat. In der Regel verdankt der Verstorbene, was er erworben hat. zu einem Teile auch dem engeren Verbände, der Stadt- oder Landgemeinde, der er angehörte. Das gilt, wenn auch in verschiedener Weise, für alle Gewerb-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/64>, abgerufen am 29.04.2024.