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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung in den vereinigten Staaten

gegenwärtiges Leben nur dann kraftvoll wirken, wenn es im Lichte gegen¬
wärtiger Wissenschaft angeschaut wird. Wohin es führt, wenn man einen über¬
lieferten Gedankenschatz in der Weise zu hüten sucht, daß man ihn in bestimmter,
aus früheren Zuständen erwachsener Auffassung festlegt, wie er dadurch starr
und unfruchtbar gemacht wird, davon erleben wir auf anderen Gebieten warnende
Beispiele. Folgen wir ihnen nicht; folgen wir der Fahne unseres alten Führers,
auf der in großen goldenen Buchstaben das Wort "Wissenschaft" stand.

Wissenschaft aber lebt nicht in Resultaten, sondern in Problemen. Darin,
daß es ein ewig junges Problem ist, liegt die Zeugungskraft des Altertums.
An den Fragen, zu denen es herausfordert, die Jugend wissenschaftlich
arbeiten zu lehren, damit ein Geschlecht klar denkender, selbständig urteilender
Männer erwachse, das ist die Aufgabe, die Oskar Jäger dem Gymnasium
gewiesen hat. Wenn wir bei dem redlichen Bemühen, seiner Forderung zu
genügen, im einzelnen öfters zu Ergebnissen gelangen, die von den seinigen
abweichen, so soll uns das nicht irre machen. Es ist das tragische Los so
manches bedeutenden Mannes, daß Schüler und Anhänger sich verpflichtet halten,
seine Ansichten nachzusprechen, anstatt die Art des Sehens ihm nachzuüben.
Bewahren wir unsern Jäger vor solcher Wendung I Verzichten wir darauf, das
Werk seines Lebens genau an der Stelle festzuhalten, bis zu der er selbst es
geführt hat, und setzen alles daran, aus dem geistigen Verkehr mit ihm die Kräfte zu
saugen, mit denen er wirkte, damit wir in verwandtem Geiste die Arbeit leisten
können, die uns nun obliegt. Nur so wird es uns gelingen, zugleich das An¬
denken des Verstorbenen recht zu ehren und der großen, der heiligen Sache zu
dienen, für die er gekämpft hat.




(Lrziehung in den Vereinigten Staaten
v Bürgers on

er Amerikaner ist allgemein von der Überzeugung durchdrungen,
daß ein gewisses Maß von Schulkeuntnissen großen praktischen
Wert hat und unbedingt erforderlich ist, um im wirtschaftlichen
Leben Erfolge zu erzielen; infolgedessen ist die Unwissenheit der
Masse verhältnismäßig gering. Es hat mich oft erstaunt, welch'
gediegene Kenntnisse die gewöhnlichsten Leute hatten. Bei Fahrten über Land
in Kalifornien, Utah und Colorado habe ich gefunden, daß die Kutscher, zum
Teil frühere Cowboys, vieles gelernt und über vieles gründlich nachgedacht
hatten. Aber die Bildung nimmt in den Gesellschaftsschichten nach oben zu


Erziehung in den vereinigten Staaten

gegenwärtiges Leben nur dann kraftvoll wirken, wenn es im Lichte gegen¬
wärtiger Wissenschaft angeschaut wird. Wohin es führt, wenn man einen über¬
lieferten Gedankenschatz in der Weise zu hüten sucht, daß man ihn in bestimmter,
aus früheren Zuständen erwachsener Auffassung festlegt, wie er dadurch starr
und unfruchtbar gemacht wird, davon erleben wir auf anderen Gebieten warnende
Beispiele. Folgen wir ihnen nicht; folgen wir der Fahne unseres alten Führers,
auf der in großen goldenen Buchstaben das Wort „Wissenschaft" stand.

Wissenschaft aber lebt nicht in Resultaten, sondern in Problemen. Darin,
daß es ein ewig junges Problem ist, liegt die Zeugungskraft des Altertums.
An den Fragen, zu denen es herausfordert, die Jugend wissenschaftlich
arbeiten zu lehren, damit ein Geschlecht klar denkender, selbständig urteilender
Männer erwachse, das ist die Aufgabe, die Oskar Jäger dem Gymnasium
gewiesen hat. Wenn wir bei dem redlichen Bemühen, seiner Forderung zu
genügen, im einzelnen öfters zu Ergebnissen gelangen, die von den seinigen
abweichen, so soll uns das nicht irre machen. Es ist das tragische Los so
manches bedeutenden Mannes, daß Schüler und Anhänger sich verpflichtet halten,
seine Ansichten nachzusprechen, anstatt die Art des Sehens ihm nachzuüben.
Bewahren wir unsern Jäger vor solcher Wendung I Verzichten wir darauf, das
Werk seines Lebens genau an der Stelle festzuhalten, bis zu der er selbst es
geführt hat, und setzen alles daran, aus dem geistigen Verkehr mit ihm die Kräfte zu
saugen, mit denen er wirkte, damit wir in verwandtem Geiste die Arbeit leisten
können, die uns nun obliegt. Nur so wird es uns gelingen, zugleich das An¬
denken des Verstorbenen recht zu ehren und der großen, der heiligen Sache zu
dienen, für die er gekämpft hat.




(Lrziehung in den Vereinigten Staaten
v Bürgers on

er Amerikaner ist allgemein von der Überzeugung durchdrungen,
daß ein gewisses Maß von Schulkeuntnissen großen praktischen
Wert hat und unbedingt erforderlich ist, um im wirtschaftlichen
Leben Erfolge zu erzielen; infolgedessen ist die Unwissenheit der
Masse verhältnismäßig gering. Es hat mich oft erstaunt, welch'
gediegene Kenntnisse die gewöhnlichsten Leute hatten. Bei Fahrten über Land
in Kalifornien, Utah und Colorado habe ich gefunden, daß die Kutscher, zum
Teil frühere Cowboys, vieles gelernt und über vieles gründlich nachgedacht
hatten. Aber die Bildung nimmt in den Gesellschaftsschichten nach oben zu


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[0079] Erziehung in den vereinigten Staaten gegenwärtiges Leben nur dann kraftvoll wirken, wenn es im Lichte gegen¬ wärtiger Wissenschaft angeschaut wird. Wohin es führt, wenn man einen über¬ lieferten Gedankenschatz in der Weise zu hüten sucht, daß man ihn in bestimmter, aus früheren Zuständen erwachsener Auffassung festlegt, wie er dadurch starr und unfruchtbar gemacht wird, davon erleben wir auf anderen Gebieten warnende Beispiele. Folgen wir ihnen nicht; folgen wir der Fahne unseres alten Führers, auf der in großen goldenen Buchstaben das Wort „Wissenschaft" stand. Wissenschaft aber lebt nicht in Resultaten, sondern in Problemen. Darin, daß es ein ewig junges Problem ist, liegt die Zeugungskraft des Altertums. An den Fragen, zu denen es herausfordert, die Jugend wissenschaftlich arbeiten zu lehren, damit ein Geschlecht klar denkender, selbständig urteilender Männer erwachse, das ist die Aufgabe, die Oskar Jäger dem Gymnasium gewiesen hat. Wenn wir bei dem redlichen Bemühen, seiner Forderung zu genügen, im einzelnen öfters zu Ergebnissen gelangen, die von den seinigen abweichen, so soll uns das nicht irre machen. Es ist das tragische Los so manches bedeutenden Mannes, daß Schüler und Anhänger sich verpflichtet halten, seine Ansichten nachzusprechen, anstatt die Art des Sehens ihm nachzuüben. Bewahren wir unsern Jäger vor solcher Wendung I Verzichten wir darauf, das Werk seines Lebens genau an der Stelle festzuhalten, bis zu der er selbst es geführt hat, und setzen alles daran, aus dem geistigen Verkehr mit ihm die Kräfte zu saugen, mit denen er wirkte, damit wir in verwandtem Geiste die Arbeit leisten können, die uns nun obliegt. Nur so wird es uns gelingen, zugleich das An¬ denken des Verstorbenen recht zu ehren und der großen, der heiligen Sache zu dienen, für die er gekämpft hat. (Lrziehung in den Vereinigten Staaten v Bürgers on er Amerikaner ist allgemein von der Überzeugung durchdrungen, daß ein gewisses Maß von Schulkeuntnissen großen praktischen Wert hat und unbedingt erforderlich ist, um im wirtschaftlichen Leben Erfolge zu erzielen; infolgedessen ist die Unwissenheit der Masse verhältnismäßig gering. Es hat mich oft erstaunt, welch' gediegene Kenntnisse die gewöhnlichsten Leute hatten. Bei Fahrten über Land in Kalifornien, Utah und Colorado habe ich gefunden, daß die Kutscher, zum Teil frühere Cowboys, vieles gelernt und über vieles gründlich nachgedacht hatten. Aber die Bildung nimmt in den Gesellschaftsschichten nach oben zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/79>, abgerufen am 29.04.2024.