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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Gskar Jäger

Was zugrunde liegt, ist eine sehr ernste Tatsache: daß sich mehr und mehr die
Meinung verbreitet, die höheren Schulen seien nicht Stätten geistigen Zusammen¬
lebens, um Menschen zu bilden, sondern unvermeidliche Veranstaltungen, um
Zeugnisse zu verschaffen, und diejenige Schule sei überall die beste, auf der dieses
äußere Ziel am schnellsten und sichersten auch von den minder Begabten erreicht
werde. In dem gemeinsamen Kampfe gegen diese banausische Denkweise wird
das Gymnasium nur dann seine Hilfe leisten können, wenn es sich in seinem
ursprünglichen Charakter aufs neue bestärkt, daß es eine Schule ist, die lehren
soll wissenschaftlich zu arbeiten; um das aber zu können, bedarf es der äußeren
Einfachheit des Lehrplans. Diese beiden Punkte bildeten das A und das O
voll Jägers pädagogischer Überzeugung. Er selbst war ein Mann von erstaun¬
licher Vielseitigkeit, nicht nur in seinen persönlichen Interessen. Latein und
Griechisch, Deutsch und Geschichte beherrschte er als Lehrer, ein großes Gebiet;
und daneben machte es ihm Freude, im Französischen und Englischen zu unter¬
richten. Zu seinen gelesensten Büchern gehört eine ausführliche Geschichte des
neunzehnten Jahrhunderts. Aber er wußte und hatte es im Innersten erfahren,
daß der Reichtum seines Geisteslebens hervorgewachsen war aus der in der
Jugend geübten Beschränkung und Vertiefung. Auch als Mann lebte er in der
Gedankenwelt des Altertums, und stand zugleich mit beiden Füßen fest auf dem
Boden der Gegenwart, in deren Schaffen und Wirken er durch die mannig¬
fachsten Beziehungen, als Schriftsteller, als Politiker, als deutscher Patriot, ver¬
flochten war. Auf dem Bewußtsein dieses Zusammenhanges ruhte sein Glaube
an die erzieherische Mission des klassischen Altertums: nicht um des Gymnasiums
willen suchte er das Gymnasium zu erhalten, sondern weil er in dem Studium
der Römer und Griechen eine Geistesschule erkannt hatte, die fürs Leben
tüchtig macht.

Und dies ist der Punkt, an dem wir einsetzen wollen, um uns selber zu
prüfen. Haben auch wir immer der Gefahr widerstanden, daß sich das Mittel,
das man uns rauben will und das dadurch zum Gegenstande des Kampfes
wird, unmerklich zu sehr vorschiebt und den Zweck zunickdrängt, dem es doch
nur dienen sollte? Hat an dem Eifer, mit den: das Gymnasium verteidigt
wird, etwa doch hier und da die Macht der Gewohnheit, keine gute Macht,
einen bestimmenden Anteil? Auch selbstbegangene Fehler gehören zu den un¬
angenehmen Dingen, die man fest ins Auge fassen soll. -- Daß in einer Zeit
allgemeinen Aufschwungs und Unischwungs ein braver Mann auch in der Schule
nicht genug daran tut, die Kunst, die man ihm übertrug, gewissenhaft und
pünktlich auszuüben, das wird kaum jemand bestreiten. . Nicht ebenso selbst¬
verständlich ist das Positive, was statt dessen erfordert wird: daß wir unablässig
den Geistesgehalt des Altertums zu den Bedürfnissen der eignen fortschreitenden Zeit
in frische Beziehung setzen. Sowohl das einzelne Werk in Literatur und
Kunst, wie die Gesamtheit dessen, was jene beiden starken Völker der Ver¬
gangenheit hervorgebracht haben und gewesen sind, dies alles kann auf ein


Gskar Jäger

Was zugrunde liegt, ist eine sehr ernste Tatsache: daß sich mehr und mehr die
Meinung verbreitet, die höheren Schulen seien nicht Stätten geistigen Zusammen¬
lebens, um Menschen zu bilden, sondern unvermeidliche Veranstaltungen, um
Zeugnisse zu verschaffen, und diejenige Schule sei überall die beste, auf der dieses
äußere Ziel am schnellsten und sichersten auch von den minder Begabten erreicht
werde. In dem gemeinsamen Kampfe gegen diese banausische Denkweise wird
das Gymnasium nur dann seine Hilfe leisten können, wenn es sich in seinem
ursprünglichen Charakter aufs neue bestärkt, daß es eine Schule ist, die lehren
soll wissenschaftlich zu arbeiten; um das aber zu können, bedarf es der äußeren
Einfachheit des Lehrplans. Diese beiden Punkte bildeten das A und das O
voll Jägers pädagogischer Überzeugung. Er selbst war ein Mann von erstaun¬
licher Vielseitigkeit, nicht nur in seinen persönlichen Interessen. Latein und
Griechisch, Deutsch und Geschichte beherrschte er als Lehrer, ein großes Gebiet;
und daneben machte es ihm Freude, im Französischen und Englischen zu unter¬
richten. Zu seinen gelesensten Büchern gehört eine ausführliche Geschichte des
neunzehnten Jahrhunderts. Aber er wußte und hatte es im Innersten erfahren,
daß der Reichtum seines Geisteslebens hervorgewachsen war aus der in der
Jugend geübten Beschränkung und Vertiefung. Auch als Mann lebte er in der
Gedankenwelt des Altertums, und stand zugleich mit beiden Füßen fest auf dem
Boden der Gegenwart, in deren Schaffen und Wirken er durch die mannig¬
fachsten Beziehungen, als Schriftsteller, als Politiker, als deutscher Patriot, ver¬
flochten war. Auf dem Bewußtsein dieses Zusammenhanges ruhte sein Glaube
an die erzieherische Mission des klassischen Altertums: nicht um des Gymnasiums
willen suchte er das Gymnasium zu erhalten, sondern weil er in dem Studium
der Römer und Griechen eine Geistesschule erkannt hatte, die fürs Leben
tüchtig macht.

Und dies ist der Punkt, an dem wir einsetzen wollen, um uns selber zu
prüfen. Haben auch wir immer der Gefahr widerstanden, daß sich das Mittel,
das man uns rauben will und das dadurch zum Gegenstande des Kampfes
wird, unmerklich zu sehr vorschiebt und den Zweck zunickdrängt, dem es doch
nur dienen sollte? Hat an dem Eifer, mit den: das Gymnasium verteidigt
wird, etwa doch hier und da die Macht der Gewohnheit, keine gute Macht,
einen bestimmenden Anteil? Auch selbstbegangene Fehler gehören zu den un¬
angenehmen Dingen, die man fest ins Auge fassen soll. — Daß in einer Zeit
allgemeinen Aufschwungs und Unischwungs ein braver Mann auch in der Schule
nicht genug daran tut, die Kunst, die man ihm übertrug, gewissenhaft und
pünktlich auszuüben, das wird kaum jemand bestreiten. . Nicht ebenso selbst¬
verständlich ist das Positive, was statt dessen erfordert wird: daß wir unablässig
den Geistesgehalt des Altertums zu den Bedürfnissen der eignen fortschreitenden Zeit
in frische Beziehung setzen. Sowohl das einzelne Werk in Literatur und
Kunst, wie die Gesamtheit dessen, was jene beiden starken Völker der Ver¬
gangenheit hervorgebracht haben und gewesen sind, dies alles kann auf ein


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[0078] Gskar Jäger Was zugrunde liegt, ist eine sehr ernste Tatsache: daß sich mehr und mehr die Meinung verbreitet, die höheren Schulen seien nicht Stätten geistigen Zusammen¬ lebens, um Menschen zu bilden, sondern unvermeidliche Veranstaltungen, um Zeugnisse zu verschaffen, und diejenige Schule sei überall die beste, auf der dieses äußere Ziel am schnellsten und sichersten auch von den minder Begabten erreicht werde. In dem gemeinsamen Kampfe gegen diese banausische Denkweise wird das Gymnasium nur dann seine Hilfe leisten können, wenn es sich in seinem ursprünglichen Charakter aufs neue bestärkt, daß es eine Schule ist, die lehren soll wissenschaftlich zu arbeiten; um das aber zu können, bedarf es der äußeren Einfachheit des Lehrplans. Diese beiden Punkte bildeten das A und das O voll Jägers pädagogischer Überzeugung. Er selbst war ein Mann von erstaun¬ licher Vielseitigkeit, nicht nur in seinen persönlichen Interessen. Latein und Griechisch, Deutsch und Geschichte beherrschte er als Lehrer, ein großes Gebiet; und daneben machte es ihm Freude, im Französischen und Englischen zu unter¬ richten. Zu seinen gelesensten Büchern gehört eine ausführliche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber er wußte und hatte es im Innersten erfahren, daß der Reichtum seines Geisteslebens hervorgewachsen war aus der in der Jugend geübten Beschränkung und Vertiefung. Auch als Mann lebte er in der Gedankenwelt des Altertums, und stand zugleich mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Gegenwart, in deren Schaffen und Wirken er durch die mannig¬ fachsten Beziehungen, als Schriftsteller, als Politiker, als deutscher Patriot, ver¬ flochten war. Auf dem Bewußtsein dieses Zusammenhanges ruhte sein Glaube an die erzieherische Mission des klassischen Altertums: nicht um des Gymnasiums willen suchte er das Gymnasium zu erhalten, sondern weil er in dem Studium der Römer und Griechen eine Geistesschule erkannt hatte, die fürs Leben tüchtig macht. Und dies ist der Punkt, an dem wir einsetzen wollen, um uns selber zu prüfen. Haben auch wir immer der Gefahr widerstanden, daß sich das Mittel, das man uns rauben will und das dadurch zum Gegenstande des Kampfes wird, unmerklich zu sehr vorschiebt und den Zweck zunickdrängt, dem es doch nur dienen sollte? Hat an dem Eifer, mit den: das Gymnasium verteidigt wird, etwa doch hier und da die Macht der Gewohnheit, keine gute Macht, einen bestimmenden Anteil? Auch selbstbegangene Fehler gehören zu den un¬ angenehmen Dingen, die man fest ins Auge fassen soll. — Daß in einer Zeit allgemeinen Aufschwungs und Unischwungs ein braver Mann auch in der Schule nicht genug daran tut, die Kunst, die man ihm übertrug, gewissenhaft und pünktlich auszuüben, das wird kaum jemand bestreiten. . Nicht ebenso selbst¬ verständlich ist das Positive, was statt dessen erfordert wird: daß wir unablässig den Geistesgehalt des Altertums zu den Bedürfnissen der eignen fortschreitenden Zeit in frische Beziehung setzen. Sowohl das einzelne Werk in Literatur und Kunst, wie die Gesamtheit dessen, was jene beiden starken Völker der Ver¬ gangenheit hervorgebracht haben und gewesen sind, dies alles kann auf ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/78>, abgerufen am 16.05.2024.