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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

reinertrages -- wie gesagt: ein noch nicht dagewesener, höchst bedenklicher
Rekordsatz!

Es ergibt sich hieraus, daß die Ansiedlungskommission, nur um den Schein
einer Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu wahren, schlechten Boden zu verhältnis¬
mäßig so hohen Preisen zu erwerben gezwungen ist, daß bei der Auslegung
der Stellen entweder der Staat unverhältnismäßige Einbuße erleiden muß oder
aber die neuen Ansiedlerstellen nicht lebensfähig sein können. Diese Tatsache
im Verein mit der weiteren, daß zu Ende des Jahres 1910 in Wirklichkeit
für die Bearbeitung durch die Ansiedlungskommission nur noch 7878 Hektar
bereit standen, indessen es in früheren Jahren 20-, 30-, 40000 Hektar
gewesen, zeigt zur Genüge, an welchem Punkte sich das Ankaufsgeschäft der
Ansiedlungskommission gegenwärtig befindet und wohin wir steuern, wenn nicht
unverzüglich mit der Anwendung des Enteignungsgesetzes Ernst gemacht wird.




Der rote Rausch
Joseph Aug. Tux Roman von
(Fortsetzung.)

Schlimme Nachrichten aus der Heimat erreichten Marcellin noch am selben
Tage in Paris. Seine unverzügliche Rückkehr war notwendig.

Die Boulevards entlang liefen die Kamelots mit Extraausgaben und schrien
mit lustiger Geschäftigkeit: Evolution! Jnvolution an midi! Revolution! Die
Blätter fanden reißenden Absatz. Da stand es schwarz auf weiß, daß Militär
nach dem Süden geworfen wurde, die aufständischen Provinzen zu "beruhigen".

Militär? Das ist ja der helle Wahnsinn! Das ist ja Öl ins Feuer! Dem
Marcellin schlugen die Knie. Ein Blitzlicht durchfuhr sein Gehirn: die Soldaten¬
transporte, die er unterwegs gesehen, die vollbepackten Züge mit Lärm und Sang!
Ninon, Nana, Lolotte... Da lagen die Gedankenzusammenhänge offen. Mit
dem nächsten Zug, der nach dem Süden ging, reiste er ab, begleitet von zwei
Zivilpolizisten.

Das Land glich einem kranken Körper, der von Fieber geschüttelt wird.
Man hatte gegen eine unsichtbare Macht gekämpft, die in den Fieberträumen
plötzlich in die Erscheinung trat als phantastisch ungeheures Tier, dessen feind¬
seliges Kommen mit angstvollem Lauschen gehört wurde wie das Nahen eines
Gespenstes, eines Unheils, einer Panik; jetzt stampft es mit plumpen Füßen über
die Berge, schwerfällig platscht es mit seinen Fleischklumpen in die Felder, Kulturen,
Gärten, eine Rieseneidechse so groß wie eine Wetterwolke, und wo es hinstapft,
spritzen Flüsse und Seen aus den Betten, und die Hügel liegen in Ohnmacht,
zerrauft und mißhandelt; jetzt zertritt es den fruchtgesegneten Leib der Mutter
Erde, der Weinstock sinkt, wie von Sicheln an der Wurzel getroffen, und über das


Der rote Rausch

reinertrages — wie gesagt: ein noch nicht dagewesener, höchst bedenklicher
Rekordsatz!

Es ergibt sich hieraus, daß die Ansiedlungskommission, nur um den Schein
einer Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu wahren, schlechten Boden zu verhältnis¬
mäßig so hohen Preisen zu erwerben gezwungen ist, daß bei der Auslegung
der Stellen entweder der Staat unverhältnismäßige Einbuße erleiden muß oder
aber die neuen Ansiedlerstellen nicht lebensfähig sein können. Diese Tatsache
im Verein mit der weiteren, daß zu Ende des Jahres 1910 in Wirklichkeit
für die Bearbeitung durch die Ansiedlungskommission nur noch 7878 Hektar
bereit standen, indessen es in früheren Jahren 20-, 30-, 40000 Hektar
gewesen, zeigt zur Genüge, an welchem Punkte sich das Ankaufsgeschäft der
Ansiedlungskommission gegenwärtig befindet und wohin wir steuern, wenn nicht
unverzüglich mit der Anwendung des Enteignungsgesetzes Ernst gemacht wird.




Der rote Rausch
Joseph Aug. Tux Roman von
(Fortsetzung.)

Schlimme Nachrichten aus der Heimat erreichten Marcellin noch am selben
Tage in Paris. Seine unverzügliche Rückkehr war notwendig.

Die Boulevards entlang liefen die Kamelots mit Extraausgaben und schrien
mit lustiger Geschäftigkeit: Evolution! Jnvolution an midi! Revolution! Die
Blätter fanden reißenden Absatz. Da stand es schwarz auf weiß, daß Militär
nach dem Süden geworfen wurde, die aufständischen Provinzen zu „beruhigen".

Militär? Das ist ja der helle Wahnsinn! Das ist ja Öl ins Feuer! Dem
Marcellin schlugen die Knie. Ein Blitzlicht durchfuhr sein Gehirn: die Soldaten¬
transporte, die er unterwegs gesehen, die vollbepackten Züge mit Lärm und Sang!
Ninon, Nana, Lolotte... Da lagen die Gedankenzusammenhänge offen. Mit
dem nächsten Zug, der nach dem Süden ging, reiste er ab, begleitet von zwei
Zivilpolizisten.

Das Land glich einem kranken Körper, der von Fieber geschüttelt wird.
Man hatte gegen eine unsichtbare Macht gekämpft, die in den Fieberträumen
plötzlich in die Erscheinung trat als phantastisch ungeheures Tier, dessen feind¬
seliges Kommen mit angstvollem Lauschen gehört wurde wie das Nahen eines
Gespenstes, eines Unheils, einer Panik; jetzt stampft es mit plumpen Füßen über
die Berge, schwerfällig platscht es mit seinen Fleischklumpen in die Felder, Kulturen,
Gärten, eine Rieseneidechse so groß wie eine Wetterwolke, und wo es hinstapft,
spritzen Flüsse und Seen aus den Betten, und die Hügel liegen in Ohnmacht,
zerrauft und mißhandelt; jetzt zertritt es den fruchtgesegneten Leib der Mutter
Erde, der Weinstock sinkt, wie von Sicheln an der Wurzel getroffen, und über das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/178>, abgerufen am 26.05.2024.