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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

Germanen in die durch die Landflucht der römischen Einwohner entvölkerten
Gebiete ein.

Es ist für uns als zentrale Landmacht in Europa sehr gefährlich, die
Getreidcpolitik des antiken Rom oder des modernen England nachzumachen,
und es ist bezeichnend, daß der Reichskanzler seine Erwiderungsrede bei dem
Festmahl des Deutschen Landwirtschaftsrats mit den Worten schloß: "Und was
sich bewährt hat, das behalten wir."




Der rote Rausch
Joseph Aug. Tux Roman von (Schlich.)

Eine Winzerversammlung wurde sofort einberufen, Marcellin sollte Bericht
erstatten. "Garantien", man erwartete die "Garantien", die Marcellin zu bringen
sich verpflichtet hatte.

Marcellin sprach.

Wieder stand eine unabsehbare Menge, Kopf an Kopf, eine lebendige Mauer.

Man sah ihn auf dem Dach eines niedrigen Hauses im freien Feld, die
Lippen bewegten sich, die Hände arbeiteten, die Züge waren wie Taue angespannt.
Er erklärte.

Die lebendige Mauer erzitterte, wie von den wellenförmig verlaufenden Stößen
einer inneren Erregung erschüttert. Ein Erdbeben, ein Seelenbeben!

"Nachbar, was sagte er? Ich höre ihn nicht?"

Einer fragte den anderen. Die Worte Marcellins sprangen von Mund zu
Mund über, von den Hunderten zu den Tausenden.

"Was sagte er? In Geduld fassen? Auf Gnade und Ungnade ergeben?
Der Regierung vertrauen? Abwarten? Unmöglich, Nachbar, unmöglich!"

Eine helle Stimme rief plötzlich i "Er ist bestochen! Marcellin ist ein Verräter!"

Marcellin ein Verräter! Es ist klar, ein Stern war im Sinken, im Erlöschen.
Wohl denen, die im Gefängnis sitzen! Welch ein Sturz!

Die Tausende hatten das Wort ergriffen.

Marcellin ein Verräter! Nieder mit Marcellin! Er will ins Gefängnis zu
den Freunden! Er will sich in Sicherheit bringen! Nieder mit Marcellin! Nieder
mit der Regierung! ^

Die Masse brüllte und wogte, eine aufgepeitschte See, die den Schlamm
ihres Grundes entblößt. . . Die Fäuste fuhren empor, ein weißer Kamm auf
dunklen Wogen.

Marcellin war diesmal nicht Herr über den Sturm. Seine Kraft war
gebrochen, ein Glück für ihn, wenn er der Brandung, die um das alte Gemäuer
löste, entrinnen kann. Noch ist alles ungewiß, der Augenblick ist höchst gefährlich.


Der rote Rausch

Germanen in die durch die Landflucht der römischen Einwohner entvölkerten
Gebiete ein.

Es ist für uns als zentrale Landmacht in Europa sehr gefährlich, die
Getreidcpolitik des antiken Rom oder des modernen England nachzumachen,
und es ist bezeichnend, daß der Reichskanzler seine Erwiderungsrede bei dem
Festmahl des Deutschen Landwirtschaftsrats mit den Worten schloß: „Und was
sich bewährt hat, das behalten wir."




Der rote Rausch
Joseph Aug. Tux Roman von (Schlich.)

Eine Winzerversammlung wurde sofort einberufen, Marcellin sollte Bericht
erstatten. „Garantien", man erwartete die „Garantien", die Marcellin zu bringen
sich verpflichtet hatte.

Marcellin sprach.

Wieder stand eine unabsehbare Menge, Kopf an Kopf, eine lebendige Mauer.

Man sah ihn auf dem Dach eines niedrigen Hauses im freien Feld, die
Lippen bewegten sich, die Hände arbeiteten, die Züge waren wie Taue angespannt.
Er erklärte.

Die lebendige Mauer erzitterte, wie von den wellenförmig verlaufenden Stößen
einer inneren Erregung erschüttert. Ein Erdbeben, ein Seelenbeben!

„Nachbar, was sagte er? Ich höre ihn nicht?"

Einer fragte den anderen. Die Worte Marcellins sprangen von Mund zu
Mund über, von den Hunderten zu den Tausenden.

„Was sagte er? In Geduld fassen? Auf Gnade und Ungnade ergeben?
Der Regierung vertrauen? Abwarten? Unmöglich, Nachbar, unmöglich!"

Eine helle Stimme rief plötzlich i „Er ist bestochen! Marcellin ist ein Verräter!"

Marcellin ein Verräter! Es ist klar, ein Stern war im Sinken, im Erlöschen.
Wohl denen, die im Gefängnis sitzen! Welch ein Sturz!

Die Tausende hatten das Wort ergriffen.

Marcellin ein Verräter! Nieder mit Marcellin! Er will ins Gefängnis zu
den Freunden! Er will sich in Sicherheit bringen! Nieder mit Marcellin! Nieder
mit der Regierung! ^

Die Masse brüllte und wogte, eine aufgepeitschte See, die den Schlamm
ihres Grundes entblößt. . . Die Fäuste fuhren empor, ein weißer Kamm auf
dunklen Wogen.

Marcellin war diesmal nicht Herr über den Sturm. Seine Kraft war
gebrochen, ein Glück für ihn, wenn er der Brandung, die um das alte Gemäuer
löste, entrinnen kann. Noch ist alles ungewiß, der Augenblick ist höchst gefährlich.


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[0228] Der rote Rausch Germanen in die durch die Landflucht der römischen Einwohner entvölkerten Gebiete ein. Es ist für uns als zentrale Landmacht in Europa sehr gefährlich, die Getreidcpolitik des antiken Rom oder des modernen England nachzumachen, und es ist bezeichnend, daß der Reichskanzler seine Erwiderungsrede bei dem Festmahl des Deutschen Landwirtschaftsrats mit den Worten schloß: „Und was sich bewährt hat, das behalten wir." Der rote Rausch Joseph Aug. Tux Roman von (Schlich.) Eine Winzerversammlung wurde sofort einberufen, Marcellin sollte Bericht erstatten. „Garantien", man erwartete die „Garantien", die Marcellin zu bringen sich verpflichtet hatte. Marcellin sprach. Wieder stand eine unabsehbare Menge, Kopf an Kopf, eine lebendige Mauer. Man sah ihn auf dem Dach eines niedrigen Hauses im freien Feld, die Lippen bewegten sich, die Hände arbeiteten, die Züge waren wie Taue angespannt. Er erklärte. Die lebendige Mauer erzitterte, wie von den wellenförmig verlaufenden Stößen einer inneren Erregung erschüttert. Ein Erdbeben, ein Seelenbeben! „Nachbar, was sagte er? Ich höre ihn nicht?" Einer fragte den anderen. Die Worte Marcellins sprangen von Mund zu Mund über, von den Hunderten zu den Tausenden. „Was sagte er? In Geduld fassen? Auf Gnade und Ungnade ergeben? Der Regierung vertrauen? Abwarten? Unmöglich, Nachbar, unmöglich!" Eine helle Stimme rief plötzlich i „Er ist bestochen! Marcellin ist ein Verräter!" Marcellin ein Verräter! Es ist klar, ein Stern war im Sinken, im Erlöschen. Wohl denen, die im Gefängnis sitzen! Welch ein Sturz! Die Tausende hatten das Wort ergriffen. Marcellin ein Verräter! Nieder mit Marcellin! Er will ins Gefängnis zu den Freunden! Er will sich in Sicherheit bringen! Nieder mit Marcellin! Nieder mit der Regierung! ^ Die Masse brüllte und wogte, eine aufgepeitschte See, die den Schlamm ihres Grundes entblößt. . . Die Fäuste fuhren empor, ein weißer Kamm auf dunklen Wogen. Marcellin war diesmal nicht Herr über den Sturm. Seine Kraft war gebrochen, ein Glück für ihn, wenn er der Brandung, die um das alte Gemäuer löste, entrinnen kann. Noch ist alles ungewiß, der Augenblick ist höchst gefährlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/228>, abgerufen am 26.05.2024.