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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichssxiegel
Innere Politik

Die Ära Bethmann Hollweg -- Elsaß-Lothringen -- Die irdischen Reste des Grafen
Ledochowski -- Der Preußische Lnndwirtschnftsministcr in der Budgetkommission --
Schmoller und Sering

Seit einigen Tagen treten die Umrisse dessen ein wenig deutlicher hervor,
was der Geschichtsschreiber unserer Zeit wird die Ära Bethmann Hollweg
nennen müssen, ähnlich wie die Zeit gleich nach dem Fortgange Bismarcks ihre
Etikette als "Ära Caprivi" erhalten hat. Das gleichartige in den beiden
historischen Momente,! liegt in der merklichen Annäherung an den Ultra-
montanismus, die sich damals und heute vollzog und in deren Folge gerade
das eintrat, was die Annäherung verhindern sollte, nämlich die Erstarkung der
Demokratie aller Arten und kosmopolitischer Bestrebungen. Erst Fürst Bülow
hat nach anfänglichem Herumtasten den Weg wieder zu den Kanälen des Volks¬
empfindens gefunden, in denen die echte Kraft der Nation pulsiert. Die Grund¬
gedanken, denen das neue Reich sein Entstehen und seine heutige Machtstellung
nach außen verdankt, kamen wieder zu Ehren und Anerkennung; und nicht nur
das wirtschaftliche und kulturelle Leben strebten erneut mächtig auf, auch das
politische erhielt einen frischen Zug, und große Aufgaben von weittragender
nationaler Bedeutung konnten fortgeführt werden. Befreit von den ärgsten
politischen Sorgen konnte daran gegangen werden, die Segnungen der ver¬
flossenen Epoche breiteren Schichten zugute kommen zu lassen. Die verständige
Absicht scheiterte mit der Finanzreform. Als Herr v. Bethmann, durch den
scheidenden Staatsleiter als Nachfolger bezeichnet, das Reichskanzlerpalais bezog,
konnte man hoffen, er werde das schwierige Amt im Sinne seines Vorgängers
weiter führen. Die nationale Presse hat ihm darum Zeit gelassen, sich ein¬
zuarbeiten, und hat vorsichtig auch dort geschwiegen, wo sonst ein kritisches Wort
gefallen wäre, lediglich, um dem neuen Führer die an sich schwierige Aufgabe
nicht noch schwieriger zu gestalten. Wir alle, die eine solche Haltung in der
Presse beobachteten, ließen uns darin noch bestärken durch die Überlegung, daß
ein Mann von der tiefen allgemeinen Bildung es verschmähen würde, Augenblicks¬
erfolgen nachzujagen, daß ein Mann, von dem es heißt, er kenne die Ent¬
wicklung des deutschen Geisteslebens von seinen Anfängen an, daß Bethmann




Reichssxiegel
Innere Politik

Die Ära Bethmann Hollweg — Elsaß-Lothringen — Die irdischen Reste des Grafen
Ledochowski — Der Preußische Lnndwirtschnftsministcr in der Budgetkommission —
Schmoller und Sering

Seit einigen Tagen treten die Umrisse dessen ein wenig deutlicher hervor,
was der Geschichtsschreiber unserer Zeit wird die Ära Bethmann Hollweg
nennen müssen, ähnlich wie die Zeit gleich nach dem Fortgange Bismarcks ihre
Etikette als „Ära Caprivi" erhalten hat. Das gleichartige in den beiden
historischen Momente,! liegt in der merklichen Annäherung an den Ultra-
montanismus, die sich damals und heute vollzog und in deren Folge gerade
das eintrat, was die Annäherung verhindern sollte, nämlich die Erstarkung der
Demokratie aller Arten und kosmopolitischer Bestrebungen. Erst Fürst Bülow
hat nach anfänglichem Herumtasten den Weg wieder zu den Kanälen des Volks¬
empfindens gefunden, in denen die echte Kraft der Nation pulsiert. Die Grund¬
gedanken, denen das neue Reich sein Entstehen und seine heutige Machtstellung
nach außen verdankt, kamen wieder zu Ehren und Anerkennung; und nicht nur
das wirtschaftliche und kulturelle Leben strebten erneut mächtig auf, auch das
politische erhielt einen frischen Zug, und große Aufgaben von weittragender
nationaler Bedeutung konnten fortgeführt werden. Befreit von den ärgsten
politischen Sorgen konnte daran gegangen werden, die Segnungen der ver¬
flossenen Epoche breiteren Schichten zugute kommen zu lassen. Die verständige
Absicht scheiterte mit der Finanzreform. Als Herr v. Bethmann, durch den
scheidenden Staatsleiter als Nachfolger bezeichnet, das Reichskanzlerpalais bezog,
konnte man hoffen, er werde das schwierige Amt im Sinne seines Vorgängers
weiter führen. Die nationale Presse hat ihm darum Zeit gelassen, sich ein¬
zuarbeiten, und hat vorsichtig auch dort geschwiegen, wo sonst ein kritisches Wort
gefallen wäre, lediglich, um dem neuen Führer die an sich schwierige Aufgabe
nicht noch schwieriger zu gestalten. Wir alle, die eine solche Haltung in der
Presse beobachteten, ließen uns darin noch bestärken durch die Überlegung, daß
ein Mann von der tiefen allgemeinen Bildung es verschmähen würde, Augenblicks¬
erfolgen nachzujagen, daß ein Mann, von dem es heißt, er kenne die Ent¬
wicklung des deutschen Geisteslebens von seinen Anfängen an, daß Bethmann


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[0292] [Abbildung] Reichssxiegel Innere Politik Die Ära Bethmann Hollweg — Elsaß-Lothringen — Die irdischen Reste des Grafen Ledochowski — Der Preußische Lnndwirtschnftsministcr in der Budgetkommission — Schmoller und Sering Seit einigen Tagen treten die Umrisse dessen ein wenig deutlicher hervor, was der Geschichtsschreiber unserer Zeit wird die Ära Bethmann Hollweg nennen müssen, ähnlich wie die Zeit gleich nach dem Fortgange Bismarcks ihre Etikette als „Ära Caprivi" erhalten hat. Das gleichartige in den beiden historischen Momente,! liegt in der merklichen Annäherung an den Ultra- montanismus, die sich damals und heute vollzog und in deren Folge gerade das eintrat, was die Annäherung verhindern sollte, nämlich die Erstarkung der Demokratie aller Arten und kosmopolitischer Bestrebungen. Erst Fürst Bülow hat nach anfänglichem Herumtasten den Weg wieder zu den Kanälen des Volks¬ empfindens gefunden, in denen die echte Kraft der Nation pulsiert. Die Grund¬ gedanken, denen das neue Reich sein Entstehen und seine heutige Machtstellung nach außen verdankt, kamen wieder zu Ehren und Anerkennung; und nicht nur das wirtschaftliche und kulturelle Leben strebten erneut mächtig auf, auch das politische erhielt einen frischen Zug, und große Aufgaben von weittragender nationaler Bedeutung konnten fortgeführt werden. Befreit von den ärgsten politischen Sorgen konnte daran gegangen werden, die Segnungen der ver¬ flossenen Epoche breiteren Schichten zugute kommen zu lassen. Die verständige Absicht scheiterte mit der Finanzreform. Als Herr v. Bethmann, durch den scheidenden Staatsleiter als Nachfolger bezeichnet, das Reichskanzlerpalais bezog, konnte man hoffen, er werde das schwierige Amt im Sinne seines Vorgängers weiter führen. Die nationale Presse hat ihm darum Zeit gelassen, sich ein¬ zuarbeiten, und hat vorsichtig auch dort geschwiegen, wo sonst ein kritisches Wort gefallen wäre, lediglich, um dem neuen Führer die an sich schwierige Aufgabe nicht noch schwieriger zu gestalten. Wir alle, die eine solche Haltung in der Presse beobachteten, ließen uns darin noch bestärken durch die Überlegung, daß ein Mann von der tiefen allgemeinen Bildung es verschmähen würde, Augenblicks¬ erfolgen nachzujagen, daß ein Mann, von dem es heißt, er kenne die Ent¬ wicklung des deutschen Geisteslebens von seinen Anfängen an, daß Bethmann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/292>, abgerufen am 19.05.2024.