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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho

"Ergreift mir die Frechen und bindet sie!" schrie der Bischof wütend. "Wollen
sehen, ob sie jetzt noch zu widerstehen wagen."

Die Reiter sprangen von den Pferden und gingen gegen die Brüder vor.
Da ertönte ein zarter, lieblicher Gesang, als käme er aus dem blauen Abend-
Himmel. Wie ein güldener Schleier legte er sich um die Seelen. Die Schwerter
senkten sich, die drohenden Fäuste fielen schlaff hernieder, die zornbebenden und
schmerzlich zuckenden Lippen schlossen sich. Alle sanken in die Knie, der Bischof
zuerst, und starrten verzückt Aliena an.

Aliena sang und sang. Die Brüder setzten sich in Bewegung, indes der
Bischof und seine Reiter nicht vom Fleck konnten. Langsam schritten sie weiter,
und Aliena sang. Die Vögel wurden still. Die Abendwolken hingen gebannt
in der Lust. Kein Wipfel regte sich. Keine Quelle klang. Weiter zogen sie,
immer weiter, bis es dunkel wurde im Walde und sie erschöpft an einem
Hügel niedersanken und sofort einschlummerten. Der Herr aber, der in der Nacht
in seinem Sternenmantel über die Wälder schritt, sah die Schlummernden und
lächelte gütig.--

Als der Morgenwind über die Berge sprang, kam er an den Hügel, wo die
Wanderer eingeschlummert waren. Da standen sieben dunkle Wacholder an dem
Hange, der zuvor kahl gewesen war, und eine schlanke Birke, aus deren Wurzeln
ein zartes, weißschimmerndes Reis wuchs. Im Gezweig der Birke aber sang ein
goldener Vogel süß und seelenvoll. Da hielt der Morgenwind den Atem an und
schlich leise vorüber.




Aulturgeschichtliche Glossen zum Falle Iatho
von Dr. Georg Aietz

n der Kulturgeschichte waltet keine Logik. Jahrhunderte kamen und
versanken in den Ozean der Zeit. Mit ihnen wurden große
Gedanken von großen Männern in Überfülle geboren. Die waren
oft von epochaler Bedeutung und leuchteten gleich einem hellen Fanat
weithin in der Menschheit. Und ob deren Pfad oft jahrhundertelang
auch in dunkle Abgrundtiefen schwand: die großen Gedanken hatten lebendige
Kraft, sie wurden fortentwickelt und blieben dann auch wohl Leitsterne durch alle
Prüfungen und Schicksalsschläge, von denen geistig hochstehende Völker im Kampfe
um ihre Existenz und nationalen Güter betroffen wurden.

Zeiten der Aufklärung können wir bis ins graue Altertum hinab verfolgen,
bis zu den großen Dichtern und Denkern der alten Hellenen und Römer. Und
was unter Kampf und Widerspruch in der Seele dieser führenden Geister reifte,
daS vermochten Staatsumwälzungen, Glaubensverfolgungeu, Religionskriege,
Inquisition und Scheiterhaufen im Keime nicht zu ersticken. Es wirkte weiter,
weil es mußte, bis in die Zeiten der Humanisten, der Aufklärungsphilosophen und


Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho

„Ergreift mir die Frechen und bindet sie!" schrie der Bischof wütend. „Wollen
sehen, ob sie jetzt noch zu widerstehen wagen."

Die Reiter sprangen von den Pferden und gingen gegen die Brüder vor.
Da ertönte ein zarter, lieblicher Gesang, als käme er aus dem blauen Abend-
Himmel. Wie ein güldener Schleier legte er sich um die Seelen. Die Schwerter
senkten sich, die drohenden Fäuste fielen schlaff hernieder, die zornbebenden und
schmerzlich zuckenden Lippen schlossen sich. Alle sanken in die Knie, der Bischof
zuerst, und starrten verzückt Aliena an.

Aliena sang und sang. Die Brüder setzten sich in Bewegung, indes der
Bischof und seine Reiter nicht vom Fleck konnten. Langsam schritten sie weiter,
und Aliena sang. Die Vögel wurden still. Die Abendwolken hingen gebannt
in der Lust. Kein Wipfel regte sich. Keine Quelle klang. Weiter zogen sie,
immer weiter, bis es dunkel wurde im Walde und sie erschöpft an einem
Hügel niedersanken und sofort einschlummerten. Der Herr aber, der in der Nacht
in seinem Sternenmantel über die Wälder schritt, sah die Schlummernden und
lächelte gütig.--

Als der Morgenwind über die Berge sprang, kam er an den Hügel, wo die
Wanderer eingeschlummert waren. Da standen sieben dunkle Wacholder an dem
Hange, der zuvor kahl gewesen war, und eine schlanke Birke, aus deren Wurzeln
ein zartes, weißschimmerndes Reis wuchs. Im Gezweig der Birke aber sang ein
goldener Vogel süß und seelenvoll. Da hielt der Morgenwind den Atem an und
schlich leise vorüber.




Aulturgeschichtliche Glossen zum Falle Iatho
von Dr. Georg Aietz

n der Kulturgeschichte waltet keine Logik. Jahrhunderte kamen und
versanken in den Ozean der Zeit. Mit ihnen wurden große
Gedanken von großen Männern in Überfülle geboren. Die waren
oft von epochaler Bedeutung und leuchteten gleich einem hellen Fanat
weithin in der Menschheit. Und ob deren Pfad oft jahrhundertelang
auch in dunkle Abgrundtiefen schwand: die großen Gedanken hatten lebendige
Kraft, sie wurden fortentwickelt und blieben dann auch wohl Leitsterne durch alle
Prüfungen und Schicksalsschläge, von denen geistig hochstehende Völker im Kampfe
um ihre Existenz und nationalen Güter betroffen wurden.

Zeiten der Aufklärung können wir bis ins graue Altertum hinab verfolgen,
bis zu den großen Dichtern und Denkern der alten Hellenen und Römer. Und
was unter Kampf und Widerspruch in der Seele dieser führenden Geister reifte,
daS vermochten Staatsumwälzungen, Glaubensverfolgungeu, Religionskriege,
Inquisition und Scheiterhaufen im Keime nicht zu ersticken. Es wirkte weiter,
weil es mußte, bis in die Zeiten der Humanisten, der Aufklärungsphilosophen und


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[0474] Kulturgeschichtliche Glossen zum Latte Jatho „Ergreift mir die Frechen und bindet sie!" schrie der Bischof wütend. „Wollen sehen, ob sie jetzt noch zu widerstehen wagen." Die Reiter sprangen von den Pferden und gingen gegen die Brüder vor. Da ertönte ein zarter, lieblicher Gesang, als käme er aus dem blauen Abend- Himmel. Wie ein güldener Schleier legte er sich um die Seelen. Die Schwerter senkten sich, die drohenden Fäuste fielen schlaff hernieder, die zornbebenden und schmerzlich zuckenden Lippen schlossen sich. Alle sanken in die Knie, der Bischof zuerst, und starrten verzückt Aliena an. Aliena sang und sang. Die Brüder setzten sich in Bewegung, indes der Bischof und seine Reiter nicht vom Fleck konnten. Langsam schritten sie weiter, und Aliena sang. Die Vögel wurden still. Die Abendwolken hingen gebannt in der Lust. Kein Wipfel regte sich. Keine Quelle klang. Weiter zogen sie, immer weiter, bis es dunkel wurde im Walde und sie erschöpft an einem Hügel niedersanken und sofort einschlummerten. Der Herr aber, der in der Nacht in seinem Sternenmantel über die Wälder schritt, sah die Schlummernden und lächelte gütig.-- Als der Morgenwind über die Berge sprang, kam er an den Hügel, wo die Wanderer eingeschlummert waren. Da standen sieben dunkle Wacholder an dem Hange, der zuvor kahl gewesen war, und eine schlanke Birke, aus deren Wurzeln ein zartes, weißschimmerndes Reis wuchs. Im Gezweig der Birke aber sang ein goldener Vogel süß und seelenvoll. Da hielt der Morgenwind den Atem an und schlich leise vorüber. Aulturgeschichtliche Glossen zum Falle Iatho von Dr. Georg Aietz n der Kulturgeschichte waltet keine Logik. Jahrhunderte kamen und versanken in den Ozean der Zeit. Mit ihnen wurden große Gedanken von großen Männern in Überfülle geboren. Die waren oft von epochaler Bedeutung und leuchteten gleich einem hellen Fanat weithin in der Menschheit. Und ob deren Pfad oft jahrhundertelang auch in dunkle Abgrundtiefen schwand: die großen Gedanken hatten lebendige Kraft, sie wurden fortentwickelt und blieben dann auch wohl Leitsterne durch alle Prüfungen und Schicksalsschläge, von denen geistig hochstehende Völker im Kampfe um ihre Existenz und nationalen Güter betroffen wurden. Zeiten der Aufklärung können wir bis ins graue Altertum hinab verfolgen, bis zu den großen Dichtern und Denkern der alten Hellenen und Römer. Und was unter Kampf und Widerspruch in der Seele dieser führenden Geister reifte, daS vermochten Staatsumwälzungen, Glaubensverfolgungeu, Religionskriege, Inquisition und Scheiterhaufen im Keime nicht zu ersticken. Es wirkte weiter, weil es mußte, bis in die Zeiten der Humanisten, der Aufklärungsphilosophen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/474>, abgerufen am 26.05.2024.