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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Medizinische Psychologie
von Gottfried Bern

WM)örper und Geist, der alte Gegensatz, in den jede Philosophie und
jeder Kultus seinen neuen Inhalt füllte, hatte bei uns während des
Mittelalters die ausschließliche Bedeutung von ethischen Begriffen
der christlichen Religion bekommen und hieß Fleisch und Seele.
Als solche standen sie sich feindselig gegenüber; aber durch ihre
gemeinsame Beziehung auf die eine, die ethische Kategorie waren ihre Grenzen so
deutlich umrissen, daß sie in logisch unkomplizierten Beziehungen zueinander
bestehen konnten. Von Pascal wird erzählt, er trug einen Gürtel mit scharfen,
eisernen Stacheln auf seinem bloßen Leib: sowie nun etwas seinen Geist, sein
Gemüt zu fesseln, sein Wohlbehagen oder seine Eitelkeit und seine Weltliche rege
zu machen drohte, brachte er sich mit einem Stoß durch den Ellbogen gegen diesen
Gürtel wieder in das richtige Geleise zurück. In so klarem reziproken Verhältnis
standen Fleisch lind Seele zueinander.

Das war nun nicht der Fall bei den beiden Begriffen, die die Cartesianische
Philosophie neugeschaffen hatte. Cartesius übertrug durch die Gegenüberstellung
von einem ausgedehnten und einem erkennenden Sein den alten Gegensatz zunächst
ins Erkenntnistheoretische! dann aber wies er ihn durch die Annahme eines
räumlich-zeitlichen Verhältnisses zwischen den beiden Größen an die naturwissen¬
schaftliche Forschung zurück und schuf durch die Verquickung dieser beiden Sphären
jenes eigentümliche wissenschaftliche Milieu und jene Art, das psycho - physische
Verhältnis zu betrachten, die sich in den immer wieder erneuten Versuchen, die
Seele zu lokalisieren und eine Psychologie auf der Grundlage der Hirnanatomie
SU begründen, bis an die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten hat.

Den letzten Vorstoß in dieser Richtung machte vor etwa einem Jahrzehnt ein
bekannter Psychiater. Der hatte dem großen Erbe epochemachender hirnphysio¬
logischer Entdeckungen, die ihm sein Jahrhundert namentlich in bezug auf die
Lokalisation gewisser "Vermögen" übergeben hatte, noch einen weiteren sehr
wichtigen entwicklungsgeschichtlichen Befund hinzugetan. Er glaubte einwandsfrei
festgestellt zu haben, daß den Sinneszentren im Gehirn, d. h. den letzten Endigungs-
stellen der Sinneserregungen und ersten Ursprungsstellen der Vorstellungen noch
gewisse andere Bezirke der Rinde gegenüberstanden, die der Art ihrer Entwicklung
nach als den anderen übergeordnet angesprochen werden mußten. In ihnen glaubte
er nun die Denkzentren gefunden und die ganze bunte vielfältige Seele glatt auf




Medizinische Psychologie
von Gottfried Bern

WM)örper und Geist, der alte Gegensatz, in den jede Philosophie und
jeder Kultus seinen neuen Inhalt füllte, hatte bei uns während des
Mittelalters die ausschließliche Bedeutung von ethischen Begriffen
der christlichen Religion bekommen und hieß Fleisch und Seele.
Als solche standen sie sich feindselig gegenüber; aber durch ihre
gemeinsame Beziehung auf die eine, die ethische Kategorie waren ihre Grenzen so
deutlich umrissen, daß sie in logisch unkomplizierten Beziehungen zueinander
bestehen konnten. Von Pascal wird erzählt, er trug einen Gürtel mit scharfen,
eisernen Stacheln auf seinem bloßen Leib: sowie nun etwas seinen Geist, sein
Gemüt zu fesseln, sein Wohlbehagen oder seine Eitelkeit und seine Weltliche rege
zu machen drohte, brachte er sich mit einem Stoß durch den Ellbogen gegen diesen
Gürtel wieder in das richtige Geleise zurück. In so klarem reziproken Verhältnis
standen Fleisch lind Seele zueinander.

Das war nun nicht der Fall bei den beiden Begriffen, die die Cartesianische
Philosophie neugeschaffen hatte. Cartesius übertrug durch die Gegenüberstellung
von einem ausgedehnten und einem erkennenden Sein den alten Gegensatz zunächst
ins Erkenntnistheoretische! dann aber wies er ihn durch die Annahme eines
räumlich-zeitlichen Verhältnisses zwischen den beiden Größen an die naturwissen¬
schaftliche Forschung zurück und schuf durch die Verquickung dieser beiden Sphären
jenes eigentümliche wissenschaftliche Milieu und jene Art, das psycho - physische
Verhältnis zu betrachten, die sich in den immer wieder erneuten Versuchen, die
Seele zu lokalisieren und eine Psychologie auf der Grundlage der Hirnanatomie
SU begründen, bis an die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten hat.

Den letzten Vorstoß in dieser Richtung machte vor etwa einem Jahrzehnt ein
bekannter Psychiater. Der hatte dem großen Erbe epochemachender hirnphysio¬
logischer Entdeckungen, die ihm sein Jahrhundert namentlich in bezug auf die
Lokalisation gewisser „Vermögen" übergeben hatte, noch einen weiteren sehr
wichtigen entwicklungsgeschichtlichen Befund hinzugetan. Er glaubte einwandsfrei
festgestellt zu haben, daß den Sinneszentren im Gehirn, d. h. den letzten Endigungs-
stellen der Sinneserregungen und ersten Ursprungsstellen der Vorstellungen noch
gewisse andere Bezirke der Rinde gegenüberstanden, die der Art ihrer Entwicklung
nach als den anderen übergeordnet angesprochen werden mußten. In ihnen glaubte
er nun die Denkzentren gefunden und die ganze bunte vielfältige Seele glatt auf


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[0593] [Abbildung] Medizinische Psychologie von Gottfried Bern WM)örper und Geist, der alte Gegensatz, in den jede Philosophie und jeder Kultus seinen neuen Inhalt füllte, hatte bei uns während des Mittelalters die ausschließliche Bedeutung von ethischen Begriffen der christlichen Religion bekommen und hieß Fleisch und Seele. Als solche standen sie sich feindselig gegenüber; aber durch ihre gemeinsame Beziehung auf die eine, die ethische Kategorie waren ihre Grenzen so deutlich umrissen, daß sie in logisch unkomplizierten Beziehungen zueinander bestehen konnten. Von Pascal wird erzählt, er trug einen Gürtel mit scharfen, eisernen Stacheln auf seinem bloßen Leib: sowie nun etwas seinen Geist, sein Gemüt zu fesseln, sein Wohlbehagen oder seine Eitelkeit und seine Weltliche rege zu machen drohte, brachte er sich mit einem Stoß durch den Ellbogen gegen diesen Gürtel wieder in das richtige Geleise zurück. In so klarem reziproken Verhältnis standen Fleisch lind Seele zueinander. Das war nun nicht der Fall bei den beiden Begriffen, die die Cartesianische Philosophie neugeschaffen hatte. Cartesius übertrug durch die Gegenüberstellung von einem ausgedehnten und einem erkennenden Sein den alten Gegensatz zunächst ins Erkenntnistheoretische! dann aber wies er ihn durch die Annahme eines räumlich-zeitlichen Verhältnisses zwischen den beiden Größen an die naturwissen¬ schaftliche Forschung zurück und schuf durch die Verquickung dieser beiden Sphären jenes eigentümliche wissenschaftliche Milieu und jene Art, das psycho - physische Verhältnis zu betrachten, die sich in den immer wieder erneuten Versuchen, die Seele zu lokalisieren und eine Psychologie auf der Grundlage der Hirnanatomie SU begründen, bis an die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten hat. Den letzten Vorstoß in dieser Richtung machte vor etwa einem Jahrzehnt ein bekannter Psychiater. Der hatte dem großen Erbe epochemachender hirnphysio¬ logischer Entdeckungen, die ihm sein Jahrhundert namentlich in bezug auf die Lokalisation gewisser „Vermögen" übergeben hatte, noch einen weiteren sehr wichtigen entwicklungsgeschichtlichen Befund hinzugetan. Er glaubte einwandsfrei festgestellt zu haben, daß den Sinneszentren im Gehirn, d. h. den letzten Endigungs- stellen der Sinneserregungen und ersten Ursprungsstellen der Vorstellungen noch gewisse andere Bezirke der Rinde gegenüberstanden, die der Art ihrer Entwicklung nach als den anderen übergeordnet angesprochen werden mußten. In ihnen glaubte er nun die Denkzentren gefunden und die ganze bunte vielfältige Seele glatt auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/593>, abgerufen am 26.05.2024.