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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Persien

Die Wahrheit zu sagen: William James' Stellungnahme zur deutschen
Philosophie war nicht nur harmlose Abneigung, sondern offener Angriff. Nament¬
lich James letztes selbstveröffentlichtes Werk, die Vorlesungen über das plura-
listische Weltbild, sind dafür kennzeichnend. Statt vieler Beispiele genüge hier
eines. "Fast sieht es aus", schreibt James, "als ob die alte englische Philo¬
sophie der Erfahrung, um der vornehmer klingenden deutschen Formeln willen
nun so lange schon aus der Mode, aufs neue Federn kriegen und sich zu einem
weiteren Fluge denn je rüsten wolle. . . Ich gestehe, daß ich mich freuen würde,
diese jüngste Bewegung siegreich zu sehen. Und meine Stimme zu ihren Gunsten
ins Gewicht gelegt zu haben, soll eines der Ergebnisse dieser Vorlesung sein."

Sieg der englischen Philosophie über die deutsche: das war ein wissen¬
schaftliches Lebensziel für William James, und es gehörte zu den Tragödien
seines Lebens, daß diese Sehnsucht ihm nicht erfüllt wurde. Denn so laut er
sich auch einreden mochte, daß "Pragmatismus, Pluralismus, radikaler Empi¬
rismus" auf dem Wege zum Siege wären, so wenig konnte er sich im Ernste
verhehlen, daß der Angriff gegen die deutsche Philosophie fehlgeschlagen war
und jene neuen Richtungen trotz ihres sachlichen Wertes nur bei wenigen Gehör
fanden.

(Ein zweiter Aufsatz zu diesem Thema folgt.)




Briefe aus Persien
2.

s wäre gewiß ein nicht uninteressantes Thema für eine Studie,
einmal im Zusammenhang die Ursachen und den Verlauf des
Niederganges der orientalischen, vor allem der islamitischen Mächte
darzustellen; zu verfolgen, wie es gekommen ist, daß der Kauf
^ aller Gläubigen zum kranken Mann am Goldenen Horn wurde,
und daß die Nachfolger der großen Mongolenkaiser auf den Thronen von
Samarkand und Delhi durch wenige Tausend Mann russischer und englischer
Truppen gedemütigt und dauernd unterworfen werden konnten. Mit einem
starken Rückgang der kriegerischen Eigenschaften dieser Völker kann man jeden¬
falls diesen Machtzerfall nicht erklären. Turkmenen, Kurden, Albanesen und
Araber, kurz alle die zahllosen Völkerschaften, die die wilden, unkultivierten
Gegenden der weiten orientalischen Reiche bewohnen, sind noch heute mit einer
Schürfe der Sinne begabt, die unserer Kulturrasse längst verloren gegangen ist.
Jeder einzige von ihnen ist ein geborener Reiter, ein geübter Schütze, ein vor-


Briefe aus Persien

Die Wahrheit zu sagen: William James' Stellungnahme zur deutschen
Philosophie war nicht nur harmlose Abneigung, sondern offener Angriff. Nament¬
lich James letztes selbstveröffentlichtes Werk, die Vorlesungen über das plura-
listische Weltbild, sind dafür kennzeichnend. Statt vieler Beispiele genüge hier
eines. „Fast sieht es aus", schreibt James, „als ob die alte englische Philo¬
sophie der Erfahrung, um der vornehmer klingenden deutschen Formeln willen
nun so lange schon aus der Mode, aufs neue Federn kriegen und sich zu einem
weiteren Fluge denn je rüsten wolle. . . Ich gestehe, daß ich mich freuen würde,
diese jüngste Bewegung siegreich zu sehen. Und meine Stimme zu ihren Gunsten
ins Gewicht gelegt zu haben, soll eines der Ergebnisse dieser Vorlesung sein."

Sieg der englischen Philosophie über die deutsche: das war ein wissen¬
schaftliches Lebensziel für William James, und es gehörte zu den Tragödien
seines Lebens, daß diese Sehnsucht ihm nicht erfüllt wurde. Denn so laut er
sich auch einreden mochte, daß „Pragmatismus, Pluralismus, radikaler Empi¬
rismus" auf dem Wege zum Siege wären, so wenig konnte er sich im Ernste
verhehlen, daß der Angriff gegen die deutsche Philosophie fehlgeschlagen war
und jene neuen Richtungen trotz ihres sachlichen Wertes nur bei wenigen Gehör
fanden.

(Ein zweiter Aufsatz zu diesem Thema folgt.)




Briefe aus Persien
2.

s wäre gewiß ein nicht uninteressantes Thema für eine Studie,
einmal im Zusammenhang die Ursachen und den Verlauf des
Niederganges der orientalischen, vor allem der islamitischen Mächte
darzustellen; zu verfolgen, wie es gekommen ist, daß der Kauf
^ aller Gläubigen zum kranken Mann am Goldenen Horn wurde,
und daß die Nachfolger der großen Mongolenkaiser auf den Thronen von
Samarkand und Delhi durch wenige Tausend Mann russischer und englischer
Truppen gedemütigt und dauernd unterworfen werden konnten. Mit einem
starken Rückgang der kriegerischen Eigenschaften dieser Völker kann man jeden¬
falls diesen Machtzerfall nicht erklären. Turkmenen, Kurden, Albanesen und
Araber, kurz alle die zahllosen Völkerschaften, die die wilden, unkultivierten
Gegenden der weiten orientalischen Reiche bewohnen, sind noch heute mit einer
Schürfe der Sinne begabt, die unserer Kulturrasse längst verloren gegangen ist.
Jeder einzige von ihnen ist ein geborener Reiter, ein geübter Schütze, ein vor-


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[0127] Briefe aus Persien Die Wahrheit zu sagen: William James' Stellungnahme zur deutschen Philosophie war nicht nur harmlose Abneigung, sondern offener Angriff. Nament¬ lich James letztes selbstveröffentlichtes Werk, die Vorlesungen über das plura- listische Weltbild, sind dafür kennzeichnend. Statt vieler Beispiele genüge hier eines. „Fast sieht es aus", schreibt James, „als ob die alte englische Philo¬ sophie der Erfahrung, um der vornehmer klingenden deutschen Formeln willen nun so lange schon aus der Mode, aufs neue Federn kriegen und sich zu einem weiteren Fluge denn je rüsten wolle. . . Ich gestehe, daß ich mich freuen würde, diese jüngste Bewegung siegreich zu sehen. Und meine Stimme zu ihren Gunsten ins Gewicht gelegt zu haben, soll eines der Ergebnisse dieser Vorlesung sein." Sieg der englischen Philosophie über die deutsche: das war ein wissen¬ schaftliches Lebensziel für William James, und es gehörte zu den Tragödien seines Lebens, daß diese Sehnsucht ihm nicht erfüllt wurde. Denn so laut er sich auch einreden mochte, daß „Pragmatismus, Pluralismus, radikaler Empi¬ rismus" auf dem Wege zum Siege wären, so wenig konnte er sich im Ernste verhehlen, daß der Angriff gegen die deutsche Philosophie fehlgeschlagen war und jene neuen Richtungen trotz ihres sachlichen Wertes nur bei wenigen Gehör fanden. (Ein zweiter Aufsatz zu diesem Thema folgt.) Briefe aus Persien 2. s wäre gewiß ein nicht uninteressantes Thema für eine Studie, einmal im Zusammenhang die Ursachen und den Verlauf des Niederganges der orientalischen, vor allem der islamitischen Mächte darzustellen; zu verfolgen, wie es gekommen ist, daß der Kauf ^ aller Gläubigen zum kranken Mann am Goldenen Horn wurde, und daß die Nachfolger der großen Mongolenkaiser auf den Thronen von Samarkand und Delhi durch wenige Tausend Mann russischer und englischer Truppen gedemütigt und dauernd unterworfen werden konnten. Mit einem starken Rückgang der kriegerischen Eigenschaften dieser Völker kann man jeden¬ falls diesen Machtzerfall nicht erklären. Turkmenen, Kurden, Albanesen und Araber, kurz alle die zahllosen Völkerschaften, die die wilden, unkultivierten Gegenden der weiten orientalischen Reiche bewohnen, sind noch heute mit einer Schürfe der Sinne begabt, die unserer Kulturrasse längst verloren gegangen ist. Jeder einzige von ihnen ist ein geborener Reiter, ein geübter Schütze, ein vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/127>, abgerufen am 29.04.2024.