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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Zeitgeist

Posten aushalten und nicht weichen wollen, obgleich sie längst ihren Dienst erfüllt
haben. Sie zusammen mit den nun zerfallenden Wällen und Zinnen haben letzten
Endes jahrhundertelang die gewaltige Flutwelle vom Osten zurückgedrängt, die die
Zivilisation Europas zu verschlingen drohte. Sie haben die Heere eines Attila
aufhalten können, Avaren, Araber und Bulgaren sind vergeblich gegen sie angestürmt.
Neun Monate lang trotzten sie dem Heere der Lateiner, und noch im Jahre 1422
hat Sultan Murad umsonst den Sturm aus Konstantinopel unternommen.

Muhammed der Eroberer hat sie schließlich mit einem Heer von zweihundert¬
tausend Mann gegen achttausend Mann griechischer Truppen bezwungen, aber das
war zu einer Zeit, wo Europa schon gefestigt genug war, um sich gegen die Ein¬
fälle vom Osten wehren zu können. Was die Mauern Konstantinopels als Kulturtat
geleistet haben, bleibt ihnen als ein Ruhm, den auch die kommenden Jahrhunderte
nicht verkümmern werden.




schule und Zeitgeist
von Prof. Dr. Eugen Grünwald

aß sich die Entwicklung unseres Volkes in aufsteigender Linie
bewege, wird von solchen, die scharf zwischen Zivilisation und
Kultur unterscheiden, nicht ohne weiteres zugestanden; daß unsere
Zeit aber eine rührige, reiche, fruchtbare Zeit ist, daß vielleicht
niemals eine so gewaltige Arbeit geleistet worden ist, wie in ihr,
dürfte schwerlich zu leugnen sein.

Die schaffensfrohe Unrast, die die lebende Generation beherrscht, dringt
mit ihren letzten Wellenbewegungen auch in die stillen Winkel sammlungs¬
bedürftiger Friedensarbeit: es war unausbleiblich, daß auch die Schule vom
Geiste der Zeit ergriffen wurde. Unausbleiblich, weil natürlich: wie alle mensch¬
lichen Einrichtungen ist sie fortbildungsfähig und fortbildungsbedürftig, nie fertig,
nie vollkommen.

Aber den leidenschaftlichen Stürmern und Drängern von heute reiten wir
Pädagogen zu langsam, hält die Schule mit dem Zeitgeist nicht gleichen Schritt;
statt die Jugend reif für das sie umflutende blühende Leben zu machen, heißt
es, überpackten wir ihren Kulturranzen mit vergangenen, überwundenen Idealen,
hemmten künstlich den Prozeß ihrer Eingewöhnung in die Gesellschaft, ja lehrten
sie wissentlich und willentlich dem Strome entgegenschwimmen. Wäre es nicht
ersprießlich, den angehenden Lebenskämpfer mit dem Gelände, auf dem er sich
einst tummele, mit Herr Feinde, dem er einst entgegentreten soll, vorher bekannt
zu machen?


Schule und Zeitgeist

Posten aushalten und nicht weichen wollen, obgleich sie längst ihren Dienst erfüllt
haben. Sie zusammen mit den nun zerfallenden Wällen und Zinnen haben letzten
Endes jahrhundertelang die gewaltige Flutwelle vom Osten zurückgedrängt, die die
Zivilisation Europas zu verschlingen drohte. Sie haben die Heere eines Attila
aufhalten können, Avaren, Araber und Bulgaren sind vergeblich gegen sie angestürmt.
Neun Monate lang trotzten sie dem Heere der Lateiner, und noch im Jahre 1422
hat Sultan Murad umsonst den Sturm aus Konstantinopel unternommen.

Muhammed der Eroberer hat sie schließlich mit einem Heer von zweihundert¬
tausend Mann gegen achttausend Mann griechischer Truppen bezwungen, aber das
war zu einer Zeit, wo Europa schon gefestigt genug war, um sich gegen die Ein¬
fälle vom Osten wehren zu können. Was die Mauern Konstantinopels als Kulturtat
geleistet haben, bleibt ihnen als ein Ruhm, den auch die kommenden Jahrhunderte
nicht verkümmern werden.




schule und Zeitgeist
von Prof. Dr. Eugen Grünwald

aß sich die Entwicklung unseres Volkes in aufsteigender Linie
bewege, wird von solchen, die scharf zwischen Zivilisation und
Kultur unterscheiden, nicht ohne weiteres zugestanden; daß unsere
Zeit aber eine rührige, reiche, fruchtbare Zeit ist, daß vielleicht
niemals eine so gewaltige Arbeit geleistet worden ist, wie in ihr,
dürfte schwerlich zu leugnen sein.

Die schaffensfrohe Unrast, die die lebende Generation beherrscht, dringt
mit ihren letzten Wellenbewegungen auch in die stillen Winkel sammlungs¬
bedürftiger Friedensarbeit: es war unausbleiblich, daß auch die Schule vom
Geiste der Zeit ergriffen wurde. Unausbleiblich, weil natürlich: wie alle mensch¬
lichen Einrichtungen ist sie fortbildungsfähig und fortbildungsbedürftig, nie fertig,
nie vollkommen.

Aber den leidenschaftlichen Stürmern und Drängern von heute reiten wir
Pädagogen zu langsam, hält die Schule mit dem Zeitgeist nicht gleichen Schritt;
statt die Jugend reif für das sie umflutende blühende Leben zu machen, heißt
es, überpackten wir ihren Kulturranzen mit vergangenen, überwundenen Idealen,
hemmten künstlich den Prozeß ihrer Eingewöhnung in die Gesellschaft, ja lehrten
sie wissentlich und willentlich dem Strome entgegenschwimmen. Wäre es nicht
ersprießlich, den angehenden Lebenskämpfer mit dem Gelände, auf dem er sich
einst tummele, mit Herr Feinde, dem er einst entgegentreten soll, vorher bekannt
zu machen?


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[0393] Schule und Zeitgeist Posten aushalten und nicht weichen wollen, obgleich sie längst ihren Dienst erfüllt haben. Sie zusammen mit den nun zerfallenden Wällen und Zinnen haben letzten Endes jahrhundertelang die gewaltige Flutwelle vom Osten zurückgedrängt, die die Zivilisation Europas zu verschlingen drohte. Sie haben die Heere eines Attila aufhalten können, Avaren, Araber und Bulgaren sind vergeblich gegen sie angestürmt. Neun Monate lang trotzten sie dem Heere der Lateiner, und noch im Jahre 1422 hat Sultan Murad umsonst den Sturm aus Konstantinopel unternommen. Muhammed der Eroberer hat sie schließlich mit einem Heer von zweihundert¬ tausend Mann gegen achttausend Mann griechischer Truppen bezwungen, aber das war zu einer Zeit, wo Europa schon gefestigt genug war, um sich gegen die Ein¬ fälle vom Osten wehren zu können. Was die Mauern Konstantinopels als Kulturtat geleistet haben, bleibt ihnen als ein Ruhm, den auch die kommenden Jahrhunderte nicht verkümmern werden. schule und Zeitgeist von Prof. Dr. Eugen Grünwald aß sich die Entwicklung unseres Volkes in aufsteigender Linie bewege, wird von solchen, die scharf zwischen Zivilisation und Kultur unterscheiden, nicht ohne weiteres zugestanden; daß unsere Zeit aber eine rührige, reiche, fruchtbare Zeit ist, daß vielleicht niemals eine so gewaltige Arbeit geleistet worden ist, wie in ihr, dürfte schwerlich zu leugnen sein. Die schaffensfrohe Unrast, die die lebende Generation beherrscht, dringt mit ihren letzten Wellenbewegungen auch in die stillen Winkel sammlungs¬ bedürftiger Friedensarbeit: es war unausbleiblich, daß auch die Schule vom Geiste der Zeit ergriffen wurde. Unausbleiblich, weil natürlich: wie alle mensch¬ lichen Einrichtungen ist sie fortbildungsfähig und fortbildungsbedürftig, nie fertig, nie vollkommen. Aber den leidenschaftlichen Stürmern und Drängern von heute reiten wir Pädagogen zu langsam, hält die Schule mit dem Zeitgeist nicht gleichen Schritt; statt die Jugend reif für das sie umflutende blühende Leben zu machen, heißt es, überpackten wir ihren Kulturranzen mit vergangenen, überwundenen Idealen, hemmten künstlich den Prozeß ihrer Eingewöhnung in die Gesellschaft, ja lehrten sie wissentlich und willentlich dem Strome entgegenschwimmen. Wäre es nicht ersprießlich, den angehenden Lebenskämpfer mit dem Gelände, auf dem er sich einst tummele, mit Herr Feinde, dem er einst entgegentreten soll, vorher bekannt zu machen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/393>, abgerufen am 29.04.2024.