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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Zeitgeist

Da trotz allem nicht bloß von Fachleuten schon gescholtenen Anbequemen
der Schule an die "Forderungen des Tages", wie es ihre Differenzierung in
verschiedene Typen. Aufnahme neuer Unterrichtsstoffe, Verbesserung ihrer Methoden
zeigt, die Unzufriedenheit mit unserem Schulwesen weiter um sich greift und tief¬
gehender wird, so dürfte es nicht unangebracht sein, die bis zu einem gewissen
Grade unleugbar antimoderne Tendenz der Schule zu beleuchten und an einigen
Beispielen zu zeigen, wie sehr gegenüber den zahllosen Forderungen auf dem
Gebiete des Erziehungs- und Unterrichtswesens, die heute um die Vorherrschaft
ringen, Zurückhaltung und Vorsicht seitens der Schule geboten ist.^)

"Freiheitspädagogik" ist heute das Feldgeschrei: Dutzendmenschen liefere
die Schule, keine Edelmenschen, Maschinen, keine Charaktere. Der naivste,
unseligste Optimismus, der Rousseausche Glaube an die ursprüngliche Güte der
menschlichen Natur, stößt es aus. Aber sittliche Freiheit ist echte Persönlichkeits¬
kultur: dazu müssen die guten Triebe und Anlagen geweckt, gerüstet, gestärkt,
die bösen zurückgedrängt und womöglich unterdrückt, muß der Eigenwille gebrochen,
muß ihm Achtung von dem Verständigeren, Besseren, Gehorsam und Autoritäts¬
gefühl anerzogen, muß das Kind in straffe Zucht genommen werden, Arbeit
und Pflicht lernen, muß es zur Einführung in die Gemeinschaft, zum Ver¬
ständnis ihrer Kultur einen Schatz von Wissen in sich aufnehmen. Das alles
geht nicht ohne gelegentlichen Druck, Zwang, Schmerz. So wird -- nach
Windelbands Ausdruck -- der natürliche Mensch zum historischen Menschen.
Das ist das wahre Recht des Individuums, das Recht, das die Gesellschaft
ihrerseits zu achten hat, und das sie so achtet, daß sie ihm durch die Forderung
der allgemeinen Schulpflicht und eine Fülle von Bildungsmöglichkeiten genügt.
Von diesen grundsätzlichen Forderungen wird die Schule nie abgehen können,
mögen sie mit dem "Jahrhundert des Kindes" noch so sehr im Widerspruche
stehen. "Der Mensch," sagt Kant, "ist das einzige Geschöpf, das erzogen
werden muß, er kann nur Mensch werden durch Erziehung; und er ist nichts,
als was die Erziehung aus ihm macht."

Zugegeben; aber die Stoffe, die die Schule ihren Zöglingen bietet, sind
zum Teil altmodisch und gegenwartsfremd, nehmen nicht oder nicht genug
Rücksicht auf moderne Kulturwerte, auf die veränderte Weltlage -- ja, die
Schule hat überhaupt zu viel Lernstoff.

Beginnen wir mit dem letzten, dem Spott über das Schulwissen und über
die Inanspruchnahme des Gedächtnisses. Bedarf das spätere Berufsleben nicht
in vielen Beziehungen des Schulwissens als Grundlage? Gibt Wissen keine
Kräfte, beruht nicht schließlich auf ihm das Können, das sittliche Handeln?
Ist nicht das "Lernen" in der Jugend, und gerade das Lernen nicht praktischer
Dinge, die wichtigste Schule des Willens? Und weil das Wissen sich in Kräfte
umsetzt, ist auch der oft gehörte Einwand hinfällig, es bleibe fo wenig von dem



") Die folgenden Ausführungen decken sich zum Teil mit meinem auf der vorjährigen
Posener Philologenderscmnnlung gehaltenen Bortrage.
Schule und Zeitgeist

Da trotz allem nicht bloß von Fachleuten schon gescholtenen Anbequemen
der Schule an die „Forderungen des Tages", wie es ihre Differenzierung in
verschiedene Typen. Aufnahme neuer Unterrichtsstoffe, Verbesserung ihrer Methoden
zeigt, die Unzufriedenheit mit unserem Schulwesen weiter um sich greift und tief¬
gehender wird, so dürfte es nicht unangebracht sein, die bis zu einem gewissen
Grade unleugbar antimoderne Tendenz der Schule zu beleuchten und an einigen
Beispielen zu zeigen, wie sehr gegenüber den zahllosen Forderungen auf dem
Gebiete des Erziehungs- und Unterrichtswesens, die heute um die Vorherrschaft
ringen, Zurückhaltung und Vorsicht seitens der Schule geboten ist.^)

„Freiheitspädagogik" ist heute das Feldgeschrei: Dutzendmenschen liefere
die Schule, keine Edelmenschen, Maschinen, keine Charaktere. Der naivste,
unseligste Optimismus, der Rousseausche Glaube an die ursprüngliche Güte der
menschlichen Natur, stößt es aus. Aber sittliche Freiheit ist echte Persönlichkeits¬
kultur: dazu müssen die guten Triebe und Anlagen geweckt, gerüstet, gestärkt,
die bösen zurückgedrängt und womöglich unterdrückt, muß der Eigenwille gebrochen,
muß ihm Achtung von dem Verständigeren, Besseren, Gehorsam und Autoritäts¬
gefühl anerzogen, muß das Kind in straffe Zucht genommen werden, Arbeit
und Pflicht lernen, muß es zur Einführung in die Gemeinschaft, zum Ver¬
ständnis ihrer Kultur einen Schatz von Wissen in sich aufnehmen. Das alles
geht nicht ohne gelegentlichen Druck, Zwang, Schmerz. So wird — nach
Windelbands Ausdruck — der natürliche Mensch zum historischen Menschen.
Das ist das wahre Recht des Individuums, das Recht, das die Gesellschaft
ihrerseits zu achten hat, und das sie so achtet, daß sie ihm durch die Forderung
der allgemeinen Schulpflicht und eine Fülle von Bildungsmöglichkeiten genügt.
Von diesen grundsätzlichen Forderungen wird die Schule nie abgehen können,
mögen sie mit dem „Jahrhundert des Kindes" noch so sehr im Widerspruche
stehen. „Der Mensch," sagt Kant, „ist das einzige Geschöpf, das erzogen
werden muß, er kann nur Mensch werden durch Erziehung; und er ist nichts,
als was die Erziehung aus ihm macht."

Zugegeben; aber die Stoffe, die die Schule ihren Zöglingen bietet, sind
zum Teil altmodisch und gegenwartsfremd, nehmen nicht oder nicht genug
Rücksicht auf moderne Kulturwerte, auf die veränderte Weltlage — ja, die
Schule hat überhaupt zu viel Lernstoff.

Beginnen wir mit dem letzten, dem Spott über das Schulwissen und über
die Inanspruchnahme des Gedächtnisses. Bedarf das spätere Berufsleben nicht
in vielen Beziehungen des Schulwissens als Grundlage? Gibt Wissen keine
Kräfte, beruht nicht schließlich auf ihm das Können, das sittliche Handeln?
Ist nicht das „Lernen" in der Jugend, und gerade das Lernen nicht praktischer
Dinge, die wichtigste Schule des Willens? Und weil das Wissen sich in Kräfte
umsetzt, ist auch der oft gehörte Einwand hinfällig, es bleibe fo wenig von dem



") Die folgenden Ausführungen decken sich zum Teil mit meinem auf der vorjährigen
Posener Philologenderscmnnlung gehaltenen Bortrage.
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[0394] Schule und Zeitgeist Da trotz allem nicht bloß von Fachleuten schon gescholtenen Anbequemen der Schule an die „Forderungen des Tages", wie es ihre Differenzierung in verschiedene Typen. Aufnahme neuer Unterrichtsstoffe, Verbesserung ihrer Methoden zeigt, die Unzufriedenheit mit unserem Schulwesen weiter um sich greift und tief¬ gehender wird, so dürfte es nicht unangebracht sein, die bis zu einem gewissen Grade unleugbar antimoderne Tendenz der Schule zu beleuchten und an einigen Beispielen zu zeigen, wie sehr gegenüber den zahllosen Forderungen auf dem Gebiete des Erziehungs- und Unterrichtswesens, die heute um die Vorherrschaft ringen, Zurückhaltung und Vorsicht seitens der Schule geboten ist.^) „Freiheitspädagogik" ist heute das Feldgeschrei: Dutzendmenschen liefere die Schule, keine Edelmenschen, Maschinen, keine Charaktere. Der naivste, unseligste Optimismus, der Rousseausche Glaube an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur, stößt es aus. Aber sittliche Freiheit ist echte Persönlichkeits¬ kultur: dazu müssen die guten Triebe und Anlagen geweckt, gerüstet, gestärkt, die bösen zurückgedrängt und womöglich unterdrückt, muß der Eigenwille gebrochen, muß ihm Achtung von dem Verständigeren, Besseren, Gehorsam und Autoritäts¬ gefühl anerzogen, muß das Kind in straffe Zucht genommen werden, Arbeit und Pflicht lernen, muß es zur Einführung in die Gemeinschaft, zum Ver¬ ständnis ihrer Kultur einen Schatz von Wissen in sich aufnehmen. Das alles geht nicht ohne gelegentlichen Druck, Zwang, Schmerz. So wird — nach Windelbands Ausdruck — der natürliche Mensch zum historischen Menschen. Das ist das wahre Recht des Individuums, das Recht, das die Gesellschaft ihrerseits zu achten hat, und das sie so achtet, daß sie ihm durch die Forderung der allgemeinen Schulpflicht und eine Fülle von Bildungsmöglichkeiten genügt. Von diesen grundsätzlichen Forderungen wird die Schule nie abgehen können, mögen sie mit dem „Jahrhundert des Kindes" noch so sehr im Widerspruche stehen. „Der Mensch," sagt Kant, „ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß, er kann nur Mensch werden durch Erziehung; und er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht." Zugegeben; aber die Stoffe, die die Schule ihren Zöglingen bietet, sind zum Teil altmodisch und gegenwartsfremd, nehmen nicht oder nicht genug Rücksicht auf moderne Kulturwerte, auf die veränderte Weltlage — ja, die Schule hat überhaupt zu viel Lernstoff. Beginnen wir mit dem letzten, dem Spott über das Schulwissen und über die Inanspruchnahme des Gedächtnisses. Bedarf das spätere Berufsleben nicht in vielen Beziehungen des Schulwissens als Grundlage? Gibt Wissen keine Kräfte, beruht nicht schließlich auf ihm das Können, das sittliche Handeln? Ist nicht das „Lernen" in der Jugend, und gerade das Lernen nicht praktischer Dinge, die wichtigste Schule des Willens? Und weil das Wissen sich in Kräfte umsetzt, ist auch der oft gehörte Einwand hinfällig, es bleibe fo wenig von dem ") Die folgenden Ausführungen decken sich zum Teil mit meinem auf der vorjährigen Posener Philologenderscmnnlung gehaltenen Bortrage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/394>, abgerufen am 15.05.2024.