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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy
von Victor Alemperev

er Wiener Drechslerssohn und Konditorlehrling Ferdinand Raimund
vertauscht nach tapferer Überwindung eines Sprachfehlers das
Handwerk mit der ersehnten Bühuenkunst, übt sein neues Metier
geraume Zeit in der Provinz und findet 1813, dreiundzwanzig
Jahre alt, die erste Anstellung an einem Theater seiner Vater¬
stadt. Die leidenschaftliche Anteilnahme des österreichischen Volkes an den Welt¬
händeln hat sich in Freude und Schmerz an Aspern und Wagram gesättigt,
die Befreiungskriege lassen nicht nur die breiteren Volksmassen, sondern auch
manchen Höhergestellten einigermaßen kalt (wofür etwa das Verhalten des
Dichters und Freiherrn Joseph Christian von Zedlitz ein sehr prägnantes Beispiel
bietet), die Empfänglichkeit für die Belustigungen der Bühne sowie auch für
ihre sanften Rührungen, wenn sie nur nicht in unangenehme Erschütterungen
ausarten, ist äußerst groß und steigert sich in den folgenden Jahren des behäbigen
Friedens und der in Wien als selbstverständlich hingenommenen und so nicht
schmerzhaft empfundenen Unterdrückung aller bürgerlichen Anteilnahme am öffent¬
lichen Leben ins Ungemessene. So hat der Schauspieler, trotzdem ihm noch
immer manches vom Makel des fahrenden Mannes und der unehrlichen Be¬
schäftigung anhaftet, reichlich viel mehr Anwartschaft auf Volksgunst als irgend
ein anderer Volksbeglücker und -Wohltäter. Der am Schauspielstand haftende
Makel dürfte zu Raimunds Liebesleid und so zu seiner Melancholie beigetragen
haben; die wohlfeile Volksgunst vermochte er um so eher zu erwerben, als er
im "Lokalfach", in den lustigen Stücken der Bäuerle, Gleich und Meist,
hervorragte. Das sorglose Gefüge solcher schwanke ermöglichte es einem beliebten
und begabten Darsteller sehr wohl, sich selber einige Scherze, ein Couplet, auch
wohl eine Szene hineinzusticken,- und von da bis zur Herstellung einer ganzen
Posse in üblicher Weise, nach zahlreichen Vorbildern und mit unbedenklichen
Umkehrungen und Anleihen, war ein Schritt, zu dem es gewiß keines über¬
ragenden dichterischen Genies bedürfte.

Kaum etwas anderes als solch ein bescheidener Schritt war Raimunds
Erstling im Jahre 1823. Er brauchte etwas Passendes zu seinem Benefiz, gab
dem bewährten Meist einen Plan an die Hand, der begann die Ausarbeitung,




Raimund und Nestroy
von Victor Alemperev

er Wiener Drechslerssohn und Konditorlehrling Ferdinand Raimund
vertauscht nach tapferer Überwindung eines Sprachfehlers das
Handwerk mit der ersehnten Bühuenkunst, übt sein neues Metier
geraume Zeit in der Provinz und findet 1813, dreiundzwanzig
Jahre alt, die erste Anstellung an einem Theater seiner Vater¬
stadt. Die leidenschaftliche Anteilnahme des österreichischen Volkes an den Welt¬
händeln hat sich in Freude und Schmerz an Aspern und Wagram gesättigt,
die Befreiungskriege lassen nicht nur die breiteren Volksmassen, sondern auch
manchen Höhergestellten einigermaßen kalt (wofür etwa das Verhalten des
Dichters und Freiherrn Joseph Christian von Zedlitz ein sehr prägnantes Beispiel
bietet), die Empfänglichkeit für die Belustigungen der Bühne sowie auch für
ihre sanften Rührungen, wenn sie nur nicht in unangenehme Erschütterungen
ausarten, ist äußerst groß und steigert sich in den folgenden Jahren des behäbigen
Friedens und der in Wien als selbstverständlich hingenommenen und so nicht
schmerzhaft empfundenen Unterdrückung aller bürgerlichen Anteilnahme am öffent¬
lichen Leben ins Ungemessene. So hat der Schauspieler, trotzdem ihm noch
immer manches vom Makel des fahrenden Mannes und der unehrlichen Be¬
schäftigung anhaftet, reichlich viel mehr Anwartschaft auf Volksgunst als irgend
ein anderer Volksbeglücker und -Wohltäter. Der am Schauspielstand haftende
Makel dürfte zu Raimunds Liebesleid und so zu seiner Melancholie beigetragen
haben; die wohlfeile Volksgunst vermochte er um so eher zu erwerben, als er
im „Lokalfach", in den lustigen Stücken der Bäuerle, Gleich und Meist,
hervorragte. Das sorglose Gefüge solcher schwanke ermöglichte es einem beliebten
und begabten Darsteller sehr wohl, sich selber einige Scherze, ein Couplet, auch
wohl eine Szene hineinzusticken,- und von da bis zur Herstellung einer ganzen
Posse in üblicher Weise, nach zahlreichen Vorbildern und mit unbedenklichen
Umkehrungen und Anleihen, war ein Schritt, zu dem es gewiß keines über¬
ragenden dichterischen Genies bedürfte.

Kaum etwas anderes als solch ein bescheidener Schritt war Raimunds
Erstling im Jahre 1823. Er brauchte etwas Passendes zu seinem Benefiz, gab
dem bewährten Meist einen Plan an die Hand, der begann die Ausarbeitung,


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[0436] [Abbildung] Raimund und Nestroy von Victor Alemperev er Wiener Drechslerssohn und Konditorlehrling Ferdinand Raimund vertauscht nach tapferer Überwindung eines Sprachfehlers das Handwerk mit der ersehnten Bühuenkunst, übt sein neues Metier geraume Zeit in der Provinz und findet 1813, dreiundzwanzig Jahre alt, die erste Anstellung an einem Theater seiner Vater¬ stadt. Die leidenschaftliche Anteilnahme des österreichischen Volkes an den Welt¬ händeln hat sich in Freude und Schmerz an Aspern und Wagram gesättigt, die Befreiungskriege lassen nicht nur die breiteren Volksmassen, sondern auch manchen Höhergestellten einigermaßen kalt (wofür etwa das Verhalten des Dichters und Freiherrn Joseph Christian von Zedlitz ein sehr prägnantes Beispiel bietet), die Empfänglichkeit für die Belustigungen der Bühne sowie auch für ihre sanften Rührungen, wenn sie nur nicht in unangenehme Erschütterungen ausarten, ist äußerst groß und steigert sich in den folgenden Jahren des behäbigen Friedens und der in Wien als selbstverständlich hingenommenen und so nicht schmerzhaft empfundenen Unterdrückung aller bürgerlichen Anteilnahme am öffent¬ lichen Leben ins Ungemessene. So hat der Schauspieler, trotzdem ihm noch immer manches vom Makel des fahrenden Mannes und der unehrlichen Be¬ schäftigung anhaftet, reichlich viel mehr Anwartschaft auf Volksgunst als irgend ein anderer Volksbeglücker und -Wohltäter. Der am Schauspielstand haftende Makel dürfte zu Raimunds Liebesleid und so zu seiner Melancholie beigetragen haben; die wohlfeile Volksgunst vermochte er um so eher zu erwerben, als er im „Lokalfach", in den lustigen Stücken der Bäuerle, Gleich und Meist, hervorragte. Das sorglose Gefüge solcher schwanke ermöglichte es einem beliebten und begabten Darsteller sehr wohl, sich selber einige Scherze, ein Couplet, auch wohl eine Szene hineinzusticken,- und von da bis zur Herstellung einer ganzen Posse in üblicher Weise, nach zahlreichen Vorbildern und mit unbedenklichen Umkehrungen und Anleihen, war ein Schritt, zu dem es gewiß keines über¬ ragenden dichterischen Genies bedürfte. Kaum etwas anderes als solch ein bescheidener Schritt war Raimunds Erstling im Jahre 1823. Er brauchte etwas Passendes zu seinem Benefiz, gab dem bewährten Meist einen Plan an die Hand, der begann die Ausarbeitung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/436>, abgerufen am 29.04.2024.