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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Nach der Gsterpciuse

Unbehagliches -- Gegensätze -- Der Kampf innerhalb der nationalliberalen Partei --
Konzession an den Demos -- Warnung vor den Wirischaftsverbäuden -- Der
Jesuitenerlaß in Bayern -- Bisherige Auslegung des Jesuitengesctzes -- Wehnors
Erlaß vom August 1911 -- Der Märzerlaß von 1912 -- seine Bedeutung -- Stellung
des Reichskanzlers -- Schiefe Lage der Reichsregierung

Während der Stille der parlamentarischen Osterferien sind wieder eine
Reihe von Geschehnissen zu verzeichnen gewesen, deren Erscheinen nicht geeignet
ist, gutes Wetter für die nächste Entwicklung der Reichspolitik zu künden: der
bayerische Jesuitenerlaß, ein viel beachteter Angriff des freisinnigen Abgeordneten
Haußmann auf die Wehrvorlagen, ein angeblich in Italien gesprochenes
Kaiserwort, das das nationale Empfinden jedes Deutschen tief verletzen wüßte,
das alles sind Erscheinungen, neben denen ein Lichtblick, wie etwa die am
Freitag, den 12. April vollzogene Gründung einer Gesellschaft für innere
Kolonisation, kaum nachhaltiger wirkt als ein Sonnenstrahl im heurigen April.
Erinnert man sich neben diesem allem noch der völligen Tatenlosigkeit der
Reichsregierung sowie der Treibereien gerade gegen die tüchtigsten von unseren
Reichsbeamten, so möchten einem die Hände schlaff in den Schoß sinken, und man
möchte weit fort eilen aus dieseni jämmerlich zerrissenen deutschen Vaterlande.

Was jeden nachdenklichen mit tiefster Sorge erfüllen muß, das ist der
ungeheure Gegensatz zwischen dem Tatendrang der Nation aus allen wirt¬
schaftlichen und damit zusammenhängenden Gebieten und der gleichzeitigen
fast völligen Apathie ethischen Aufgaben gegenüber. Man nehme den Kampf
innerhalb der nationalliberalen Partei. Aus der ganzen Flut von
Aufsätzen, die von den Nationalliberalen in der nationalliberalen Presse ver¬
öffentlicht wurden, sind meines Wissens nur zwei, die sich auf einen das gesamte
Kampfgebiet beleuchtenden Standpunkt stellen: vor einigen Wochen eine Aus¬
lassung der Kölnischen Zeitung und kürzlich eine Darlegung des Regierungs¬
rath Poensgen. Das sind Ausführungen, die es verstehen, sich von rein
taktischen Gesichtspunkten loszulösen, die zeigen, wo die Gefahr liegt, aber auch
nachweisen, wo die einigende Basis für die einander bekämpfenden Richtungen
zu finden ist. Alle anderen Aufsätze konnten ebenso gut von Freisinnigen oder




Reichsspiegel
Nach der Gsterpciuse

Unbehagliches — Gegensätze — Der Kampf innerhalb der nationalliberalen Partei —
Konzession an den Demos — Warnung vor den Wirischaftsverbäuden — Der
Jesuitenerlaß in Bayern — Bisherige Auslegung des Jesuitengesctzes — Wehnors
Erlaß vom August 1911 — Der Märzerlaß von 1912 — seine Bedeutung — Stellung
des Reichskanzlers — Schiefe Lage der Reichsregierung

Während der Stille der parlamentarischen Osterferien sind wieder eine
Reihe von Geschehnissen zu verzeichnen gewesen, deren Erscheinen nicht geeignet
ist, gutes Wetter für die nächste Entwicklung der Reichspolitik zu künden: der
bayerische Jesuitenerlaß, ein viel beachteter Angriff des freisinnigen Abgeordneten
Haußmann auf die Wehrvorlagen, ein angeblich in Italien gesprochenes
Kaiserwort, das das nationale Empfinden jedes Deutschen tief verletzen wüßte,
das alles sind Erscheinungen, neben denen ein Lichtblick, wie etwa die am
Freitag, den 12. April vollzogene Gründung einer Gesellschaft für innere
Kolonisation, kaum nachhaltiger wirkt als ein Sonnenstrahl im heurigen April.
Erinnert man sich neben diesem allem noch der völligen Tatenlosigkeit der
Reichsregierung sowie der Treibereien gerade gegen die tüchtigsten von unseren
Reichsbeamten, so möchten einem die Hände schlaff in den Schoß sinken, und man
möchte weit fort eilen aus dieseni jämmerlich zerrissenen deutschen Vaterlande.

Was jeden nachdenklichen mit tiefster Sorge erfüllen muß, das ist der
ungeheure Gegensatz zwischen dem Tatendrang der Nation aus allen wirt¬
schaftlichen und damit zusammenhängenden Gebieten und der gleichzeitigen
fast völligen Apathie ethischen Aufgaben gegenüber. Man nehme den Kampf
innerhalb der nationalliberalen Partei. Aus der ganzen Flut von
Aufsätzen, die von den Nationalliberalen in der nationalliberalen Presse ver¬
öffentlicht wurden, sind meines Wissens nur zwei, die sich auf einen das gesamte
Kampfgebiet beleuchtenden Standpunkt stellen: vor einigen Wochen eine Aus¬
lassung der Kölnischen Zeitung und kürzlich eine Darlegung des Regierungs¬
rath Poensgen. Das sind Ausführungen, die es verstehen, sich von rein
taktischen Gesichtspunkten loszulösen, die zeigen, wo die Gefahr liegt, aber auch
nachweisen, wo die einigende Basis für die einander bekämpfenden Richtungen
zu finden ist. Alle anderen Aufsätze konnten ebenso gut von Freisinnigen oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/156>, abgerufen am 26.05.2024.