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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Persönlichkeit und ^ache in der Wissenschaft
von Dr. Wilhelm Martin Becker

HMI rganisation, das ist das Schlagwort der Gegenwart. Wo auch
immer Ziele irgendwelcher Art erreicht werden sollen, geschieht es
heute durch Zusammenschluß vieler Individuen, durch Unterordnung
des einzelnen unter den gemeinsamen Zweck, durch Ausnutzung
I der Stoßkraft der Masse auf das bestimmte Ziel zu. Unser Volk
gilt für besonders organisatorisch begabt; es mag das an der eingewurzelten
militärischen Disziplin liegen, die den einzelnen willig macht, sich einem Ganzen
einzuordnen. Aber es ist auch ein Wesenszug der modernen Menschen, daß sie
sich von allem, was nach Organisation aussieht, imponieren lassen, daß sie sich
als Mitglied eines Ganzen gehoben vorkommen gegenüber ihrer früheren Einzel¬
stellung; Beispiele sind nicht weit zu suchen. Dieser Wesenszug räumt natürlich
den Führern bei der Durchsetzung ihrer Pläne viele Hindernisse aus dem Weg,
so daß bei uns heute organisatorische Gedanken leicht zu Erfolgen führen.

Diese starke Neigung des einzelnen, sich in ein Ganzes einzugliedern, hat
ihre lächerliche Seite in der Vereinsmeierei, ihre komischen Figuren in Leuten
wie dem von Fritz Anders so lebenswahr gezeichneten Paragraphendirektor.
Aber sie hat auch ihre ernste, bedenkliche Seite. Sie liegt in der leichten Aus-
löschbarkeit des Individuellen zugunsten auch eines geringwertigen Allgemeinen,
in der Abladung der Verantwortung von einzelnen auf das Ganze, und in ihr
wurzeln die Macht des Schlagworts auf die Masse, die Herrschaft der Parteien,
in ihr ist es auch begründet, daß der Bürger der Gegenwart, selbst unserer
demokratischen Gegenwart, bei allen Schäden des öffentlichen, sozialen, wirt¬
schaftlichen Lebens zuerst nach der Staatsgewalt, der Polizei ruft, auch wo er
sich selbst helfen könnte. So lange diese Eigenschaft des deutschen Philisters --
und wie groß ist sein Anteil am deutschen Volk! -- nicht bekämpft wird, erziele,:
wir mit aller staatsbürgerlichen Erziehung kein politisches Volk.

Was ist, wenn wir tiefer blicken, der Kern dieser Erscheinung? Die allzu-
willige Selbsthingabe des Subjekts an ein Objekt, ohne daß erwogen wird, ob
nicht die Erhaltung des selbständigen und selbsttätigen Subjekts den: Volke, dem
Staate, der Kultur größere Werte erhält als die Förderung eines toten Objekts.
Und wie viele dieserObjekte sind totimVergleichmitdemLebensreichtumdesSubjekts!

Wie dem Objekt in der Politik, heiße es nun Staatsraison oder Partei-
doktrin, Menschenopfer, d. h. persönliche Überzeugungen, dargebracht werden, soll




Persönlichkeit und ^ache in der Wissenschaft
von Dr. Wilhelm Martin Becker

HMI rganisation, das ist das Schlagwort der Gegenwart. Wo auch
immer Ziele irgendwelcher Art erreicht werden sollen, geschieht es
heute durch Zusammenschluß vieler Individuen, durch Unterordnung
des einzelnen unter den gemeinsamen Zweck, durch Ausnutzung
I der Stoßkraft der Masse auf das bestimmte Ziel zu. Unser Volk
gilt für besonders organisatorisch begabt; es mag das an der eingewurzelten
militärischen Disziplin liegen, die den einzelnen willig macht, sich einem Ganzen
einzuordnen. Aber es ist auch ein Wesenszug der modernen Menschen, daß sie
sich von allem, was nach Organisation aussieht, imponieren lassen, daß sie sich
als Mitglied eines Ganzen gehoben vorkommen gegenüber ihrer früheren Einzel¬
stellung; Beispiele sind nicht weit zu suchen. Dieser Wesenszug räumt natürlich
den Führern bei der Durchsetzung ihrer Pläne viele Hindernisse aus dem Weg,
so daß bei uns heute organisatorische Gedanken leicht zu Erfolgen führen.

Diese starke Neigung des einzelnen, sich in ein Ganzes einzugliedern, hat
ihre lächerliche Seite in der Vereinsmeierei, ihre komischen Figuren in Leuten
wie dem von Fritz Anders so lebenswahr gezeichneten Paragraphendirektor.
Aber sie hat auch ihre ernste, bedenkliche Seite. Sie liegt in der leichten Aus-
löschbarkeit des Individuellen zugunsten auch eines geringwertigen Allgemeinen,
in der Abladung der Verantwortung von einzelnen auf das Ganze, und in ihr
wurzeln die Macht des Schlagworts auf die Masse, die Herrschaft der Parteien,
in ihr ist es auch begründet, daß der Bürger der Gegenwart, selbst unserer
demokratischen Gegenwart, bei allen Schäden des öffentlichen, sozialen, wirt¬
schaftlichen Lebens zuerst nach der Staatsgewalt, der Polizei ruft, auch wo er
sich selbst helfen könnte. So lange diese Eigenschaft des deutschen Philisters —
und wie groß ist sein Anteil am deutschen Volk! — nicht bekämpft wird, erziele,:
wir mit aller staatsbürgerlichen Erziehung kein politisches Volk.

Was ist, wenn wir tiefer blicken, der Kern dieser Erscheinung? Die allzu-
willige Selbsthingabe des Subjekts an ein Objekt, ohne daß erwogen wird, ob
nicht die Erhaltung des selbständigen und selbsttätigen Subjekts den: Volke, dem
Staate, der Kultur größere Werte erhält als die Förderung eines toten Objekts.
Und wie viele dieserObjekte sind totimVergleichmitdemLebensreichtumdesSubjekts!

Wie dem Objekt in der Politik, heiße es nun Staatsraison oder Partei-
doktrin, Menschenopfer, d. h. persönliche Überzeugungen, dargebracht werden, soll


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[0023] [Abbildung] Persönlichkeit und ^ache in der Wissenschaft von Dr. Wilhelm Martin Becker HMI rganisation, das ist das Schlagwort der Gegenwart. Wo auch immer Ziele irgendwelcher Art erreicht werden sollen, geschieht es heute durch Zusammenschluß vieler Individuen, durch Unterordnung des einzelnen unter den gemeinsamen Zweck, durch Ausnutzung I der Stoßkraft der Masse auf das bestimmte Ziel zu. Unser Volk gilt für besonders organisatorisch begabt; es mag das an der eingewurzelten militärischen Disziplin liegen, die den einzelnen willig macht, sich einem Ganzen einzuordnen. Aber es ist auch ein Wesenszug der modernen Menschen, daß sie sich von allem, was nach Organisation aussieht, imponieren lassen, daß sie sich als Mitglied eines Ganzen gehoben vorkommen gegenüber ihrer früheren Einzel¬ stellung; Beispiele sind nicht weit zu suchen. Dieser Wesenszug räumt natürlich den Führern bei der Durchsetzung ihrer Pläne viele Hindernisse aus dem Weg, so daß bei uns heute organisatorische Gedanken leicht zu Erfolgen führen. Diese starke Neigung des einzelnen, sich in ein Ganzes einzugliedern, hat ihre lächerliche Seite in der Vereinsmeierei, ihre komischen Figuren in Leuten wie dem von Fritz Anders so lebenswahr gezeichneten Paragraphendirektor. Aber sie hat auch ihre ernste, bedenkliche Seite. Sie liegt in der leichten Aus- löschbarkeit des Individuellen zugunsten auch eines geringwertigen Allgemeinen, in der Abladung der Verantwortung von einzelnen auf das Ganze, und in ihr wurzeln die Macht des Schlagworts auf die Masse, die Herrschaft der Parteien, in ihr ist es auch begründet, daß der Bürger der Gegenwart, selbst unserer demokratischen Gegenwart, bei allen Schäden des öffentlichen, sozialen, wirt¬ schaftlichen Lebens zuerst nach der Staatsgewalt, der Polizei ruft, auch wo er sich selbst helfen könnte. So lange diese Eigenschaft des deutschen Philisters — und wie groß ist sein Anteil am deutschen Volk! — nicht bekämpft wird, erziele,: wir mit aller staatsbürgerlichen Erziehung kein politisches Volk. Was ist, wenn wir tiefer blicken, der Kern dieser Erscheinung? Die allzu- willige Selbsthingabe des Subjekts an ein Objekt, ohne daß erwogen wird, ob nicht die Erhaltung des selbständigen und selbsttätigen Subjekts den: Volke, dem Staate, der Kultur größere Werte erhält als die Förderung eines toten Objekts. Und wie viele dieserObjekte sind totimVergleichmitdemLebensreichtumdesSubjekts! Wie dem Objekt in der Politik, heiße es nun Staatsraison oder Partei- doktrin, Menschenopfer, d. h. persönliche Überzeugungen, dargebracht werden, soll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/23>, abgerufen am 26.05.2024.