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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Aus j)reußen und Deutschland

Kampf gegen den Umsturz -- Die Sozialdemokraten Mittel zu ihrer Bekämpfung --
Wahlrechtsreform in Preußen -- Ansiedlungswcrk gefährdet -- Bauernlegen -- Jesuiten-
erlasz -- Die Dnellfrage -- Ehrengerichte -- Ihre Gefahren für den Reserve¬
offizier

Neben den Verhandlungen über die Wehrvorlage haben die Kämpfe der Par¬
teien untereinander und die Stellung des Herrn Reichskanzlers dazu die Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen. Die Bemühungen des Kanzlers sind nach wie vor
darauf gerichtet, alle bürgerlichen Parteien miteinander auszusöhnen, um mit ihnen
gemeinsam den "Kampf gegen den Umsturz" aufnehmen zu können, womit
die Bekämpfung der Sozialdemokratie gemeint wird. Daß ein solcher Kampf not¬
wendig ist, zeigen erneut Vorgänge wie die Ablehnung der Wehrvorlagen durch
die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, ebenso wie das Auftreten des Abgeord¬
neten Dr. Liebknecht im Landtage; das Eintreten für die Aufhebung des Jesuiten¬
erlasses müssen wir auch hierher rechnen, weil es allein durch den Wunsch gerecht¬
fertigt erscheint, dem Bestände des Vaterlandes zu schaden. Nur darüber gehen
die Ansichten auseinander, wo der Kampf anzusetzen hätte. Unsere Konservativen
wollen mit Ausnahmegesetzen und Verstärkung der Polizeigewalt vorgehen; die
Liberalen, denen es auf eine reine Machtpolitik nicht ankommt, erstreben die
Beseitigung der Ursachen, die so viele deutsche Staatsbürger in die Arme der
sozialdemokratischen Partei getrieben haben; sie erhoffen davon auch rückwirkend
eine innere Umwandlung dieser Partei.

Die Sozialdemokraten sind sich wohl bewußt, daß sie den Einfluß
auf die Massen, insbesondere auf die unreife Jugend, nur solange behalten, als
sie absolute Oppositionspartei bleiben. In den Köpfen der Verständigeren
unter ihnen hat es längst gedämmert, daß ein Gebilde wie der preußische Staat
nicht wie ein Kartenhaus umzublasen ist. Dieser in Jahrhunderten erstarkte
Organismus, der den siebenjährigen Krieg und das napoleonische Unwetter ver¬
tragen, der die Vormacht im Deutschen Bunde und dann im Deutschen Reiche
werden konnte, ist unzerstörbar, solange er sich nicht selbst zerstört. Darauf aber
zielen die Führer des Radikalismus innerhalb der Sozialdemokratie hin. Ihr
Verhalten hat keinen anderen Zweck, als die Gegner von rechts zu reizen und zu
Unvorsichtigkeiten zu veranlassen. Darum ist es doppelt zu bedauern, wenn ihnen diese
ihre Absicht gelingt und, in Wechselwirkung mit dem Treiben der Sozialdemokraten,




Reichsspiegel
Aus j)reußen und Deutschland

Kampf gegen den Umsturz — Die Sozialdemokraten Mittel zu ihrer Bekämpfung —
Wahlrechtsreform in Preußen — Ansiedlungswcrk gefährdet — Bauernlegen — Jesuiten-
erlasz — Die Dnellfrage — Ehrengerichte — Ihre Gefahren für den Reserve¬
offizier

Neben den Verhandlungen über die Wehrvorlage haben die Kämpfe der Par¬
teien untereinander und die Stellung des Herrn Reichskanzlers dazu die Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen. Die Bemühungen des Kanzlers sind nach wie vor
darauf gerichtet, alle bürgerlichen Parteien miteinander auszusöhnen, um mit ihnen
gemeinsam den „Kampf gegen den Umsturz" aufnehmen zu können, womit
die Bekämpfung der Sozialdemokratie gemeint wird. Daß ein solcher Kampf not¬
wendig ist, zeigen erneut Vorgänge wie die Ablehnung der Wehrvorlagen durch
die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, ebenso wie das Auftreten des Abgeord¬
neten Dr. Liebknecht im Landtage; das Eintreten für die Aufhebung des Jesuiten¬
erlasses müssen wir auch hierher rechnen, weil es allein durch den Wunsch gerecht¬
fertigt erscheint, dem Bestände des Vaterlandes zu schaden. Nur darüber gehen
die Ansichten auseinander, wo der Kampf anzusetzen hätte. Unsere Konservativen
wollen mit Ausnahmegesetzen und Verstärkung der Polizeigewalt vorgehen; die
Liberalen, denen es auf eine reine Machtpolitik nicht ankommt, erstreben die
Beseitigung der Ursachen, die so viele deutsche Staatsbürger in die Arme der
sozialdemokratischen Partei getrieben haben; sie erhoffen davon auch rückwirkend
eine innere Umwandlung dieser Partei.

Die Sozialdemokraten sind sich wohl bewußt, daß sie den Einfluß
auf die Massen, insbesondere auf die unreife Jugend, nur solange behalten, als
sie absolute Oppositionspartei bleiben. In den Köpfen der Verständigeren
unter ihnen hat es längst gedämmert, daß ein Gebilde wie der preußische Staat
nicht wie ein Kartenhaus umzublasen ist. Dieser in Jahrhunderten erstarkte
Organismus, der den siebenjährigen Krieg und das napoleonische Unwetter ver¬
tragen, der die Vormacht im Deutschen Bunde und dann im Deutschen Reiche
werden konnte, ist unzerstörbar, solange er sich nicht selbst zerstört. Darauf aber
zielen die Führer des Radikalismus innerhalb der Sozialdemokratie hin. Ihr
Verhalten hat keinen anderen Zweck, als die Gegner von rechts zu reizen und zu
Unvorsichtigkeiten zu veranlassen. Darum ist es doppelt zu bedauern, wenn ihnen diese
ihre Absicht gelingt und, in Wechselwirkung mit dem Treiben der Sozialdemokraten,


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[0257] [Abbildung] Reichsspiegel Aus j)reußen und Deutschland Kampf gegen den Umsturz — Die Sozialdemokraten Mittel zu ihrer Bekämpfung — Wahlrechtsreform in Preußen — Ansiedlungswcrk gefährdet — Bauernlegen — Jesuiten- erlasz — Die Dnellfrage — Ehrengerichte — Ihre Gefahren für den Reserve¬ offizier Neben den Verhandlungen über die Wehrvorlage haben die Kämpfe der Par¬ teien untereinander und die Stellung des Herrn Reichskanzlers dazu die Auf¬ merksamkeit auf sich gezogen. Die Bemühungen des Kanzlers sind nach wie vor darauf gerichtet, alle bürgerlichen Parteien miteinander auszusöhnen, um mit ihnen gemeinsam den „Kampf gegen den Umsturz" aufnehmen zu können, womit die Bekämpfung der Sozialdemokratie gemeint wird. Daß ein solcher Kampf not¬ wendig ist, zeigen erneut Vorgänge wie die Ablehnung der Wehrvorlagen durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, ebenso wie das Auftreten des Abgeord¬ neten Dr. Liebknecht im Landtage; das Eintreten für die Aufhebung des Jesuiten¬ erlasses müssen wir auch hierher rechnen, weil es allein durch den Wunsch gerecht¬ fertigt erscheint, dem Bestände des Vaterlandes zu schaden. Nur darüber gehen die Ansichten auseinander, wo der Kampf anzusetzen hätte. Unsere Konservativen wollen mit Ausnahmegesetzen und Verstärkung der Polizeigewalt vorgehen; die Liberalen, denen es auf eine reine Machtpolitik nicht ankommt, erstreben die Beseitigung der Ursachen, die so viele deutsche Staatsbürger in die Arme der sozialdemokratischen Partei getrieben haben; sie erhoffen davon auch rückwirkend eine innere Umwandlung dieser Partei. Die Sozialdemokraten sind sich wohl bewußt, daß sie den Einfluß auf die Massen, insbesondere auf die unreife Jugend, nur solange behalten, als sie absolute Oppositionspartei bleiben. In den Köpfen der Verständigeren unter ihnen hat es längst gedämmert, daß ein Gebilde wie der preußische Staat nicht wie ein Kartenhaus umzublasen ist. Dieser in Jahrhunderten erstarkte Organismus, der den siebenjährigen Krieg und das napoleonische Unwetter ver¬ tragen, der die Vormacht im Deutschen Bunde und dann im Deutschen Reiche werden konnte, ist unzerstörbar, solange er sich nicht selbst zerstört. Darauf aber zielen die Führer des Radikalismus innerhalb der Sozialdemokratie hin. Ihr Verhalten hat keinen anderen Zweck, als die Gegner von rechts zu reizen und zu Unvorsichtigkeiten zu veranlassen. Darum ist es doppelt zu bedauern, wenn ihnen diese ihre Absicht gelingt und, in Wechselwirkung mit dem Treiben der Sozialdemokraten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/257>, abgerufen am 26.05.2024.