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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sünder und wissen nit aus noch ein. Wir glauben oft den besseren Weg zu
gehn mit starkem und gerechtem Schritt und tun vielleicht des Leidens mehr
an fremdem Blut, als uns dereinst fürs eigene Heil zugut gerechnet wird. --
Daß Gott uns helfen und raten möge!"

Soweit hatte Dürer gelesen, da entfiel der Brief seiner zitternden Hand.

Zugleich besann er sich, er trage den Kranz aus wildem Wein noch auf
dem Haupte. Er hob ihn leise ab und legte ihn sachte vor sich auf den Tisch.

Ta lag er nun, der grünverworrene Bote aus den tollen Stunden welt¬
vergessener Fröhlichkeit.

Da lag er stumm sür sich allein und schien nicht anders als ein Toten-
kränzlein.

Durchs offene Fenster wehte ein Windhauch fernen Gesang herbei. Der
Meister lauschte reglos, ob er nochmals wiederkehre.

Er tönte noch einmal leise zitternd zurück.

Und nun zum anderen Mal, wohl kaum noch hörbar.

Hierauf erlosch er wie ein mildes wunderliches Seufzen in weiter Ferne
für alle Zeit.

Ende.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Geschichte

Zum Gedächtnis Niebuhrs. 1811 ist der
erste Band von Niebuhrs Römischer Geschichte
erschienen, 1812 -- bor hundert Jahren --
der zweite. Das Andenken großer Männer
sollte man weniger an den Daten ihres
äußeren Lebens wie Geburt und Tod feiern,
als an denen, die Marksteine ihres Wirkens
bezeichnen. Jene beiden Bände waren epoche¬
machend in der deutschen historischen Literatur
und zugleich in der internationalen Erkenntnis
der römischen Geschichte. Trotzdem wird man
heute dem Nichtfachmann ihre Lektüre nicht
mehr empfehlen dürfen, denn inhaltlich sind
sie von Mommsen längst überholt. Aber ins
Gedächtnis rufen soll man sich worin damals
die Bedeutung dieser Bände bestand. Nicht,
Kie viele Gebildete heute meinen, darin, daß
ste die Ungewißheit der älteren römischen

[Spaltenumbruch]

Geschichte, wie sie sich bei Livius findet, er¬
wiesen, das war bor Niebuhr längst geschehen,
sondern darin, daß durch sie -- wie er selbst
sagt -- zuerst gezeigt wurde, "weshalb und
wie jedes Einzelne erfunden ist". Dabei
irrte er freilich oft, aber er wies doch der
späteren Forschung den richtigen Weg. Auch
darin war er neu, daß er die Vergangenheit
aus der Gegenwart zu erklären bemüht war.
Was er in der Jugend von den Zuständen
der Bauern in seinen? heimischen Ditmarschen
kennen gelernt hatte, diente ihm zum Ver¬
ständnis und zur Erklärung der Zustände
des alten Rom, das er als eine rechte
Bauernrepublik zuerst erkannt und beschrieben
hat. Aber das Wichtigste ist etwas anderes:
die beiden ersten Bände seiner römischen
Geschichte leiteten "jene gewaltige historische
Strömung" ein, die das neunzehnte Jahr-

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sünder und wissen nit aus noch ein. Wir glauben oft den besseren Weg zu
gehn mit starkem und gerechtem Schritt und tun vielleicht des Leidens mehr
an fremdem Blut, als uns dereinst fürs eigene Heil zugut gerechnet wird. —
Daß Gott uns helfen und raten möge!"

Soweit hatte Dürer gelesen, da entfiel der Brief seiner zitternden Hand.

Zugleich besann er sich, er trage den Kranz aus wildem Wein noch auf
dem Haupte. Er hob ihn leise ab und legte ihn sachte vor sich auf den Tisch.

Ta lag er nun, der grünverworrene Bote aus den tollen Stunden welt¬
vergessener Fröhlichkeit.

Da lag er stumm sür sich allein und schien nicht anders als ein Toten-
kränzlein.

Durchs offene Fenster wehte ein Windhauch fernen Gesang herbei. Der
Meister lauschte reglos, ob er nochmals wiederkehre.

Er tönte noch einmal leise zitternd zurück.

Und nun zum anderen Mal, wohl kaum noch hörbar.

Hierauf erlosch er wie ein mildes wunderliches Seufzen in weiter Ferne
für alle Zeit.

Ende.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Geschichte

Zum Gedächtnis Niebuhrs. 1811 ist der
erste Band von Niebuhrs Römischer Geschichte
erschienen, 1812 — bor hundert Jahren —
der zweite. Das Andenken großer Männer
sollte man weniger an den Daten ihres
äußeren Lebens wie Geburt und Tod feiern,
als an denen, die Marksteine ihres Wirkens
bezeichnen. Jene beiden Bände waren epoche¬
machend in der deutschen historischen Literatur
und zugleich in der internationalen Erkenntnis
der römischen Geschichte. Trotzdem wird man
heute dem Nichtfachmann ihre Lektüre nicht
mehr empfehlen dürfen, denn inhaltlich sind
sie von Mommsen längst überholt. Aber ins
Gedächtnis rufen soll man sich worin damals
die Bedeutung dieser Bände bestand. Nicht,
Kie viele Gebildete heute meinen, darin, daß
ste die Ungewißheit der älteren römischen

[Spaltenumbruch]

Geschichte, wie sie sich bei Livius findet, er¬
wiesen, das war bor Niebuhr längst geschehen,
sondern darin, daß durch sie — wie er selbst
sagt — zuerst gezeigt wurde, „weshalb und
wie jedes Einzelne erfunden ist". Dabei
irrte er freilich oft, aber er wies doch der
späteren Forschung den richtigen Weg. Auch
darin war er neu, daß er die Vergangenheit
aus der Gegenwart zu erklären bemüht war.
Was er in der Jugend von den Zuständen
der Bauern in seinen? heimischen Ditmarschen
kennen gelernt hatte, diente ihm zum Ver¬
ständnis und zur Erklärung der Zustände
des alten Rom, das er als eine rechte
Bauernrepublik zuerst erkannt und beschrieben
hat. Aber das Wichtigste ist etwas anderes:
die beiden ersten Bände seiner römischen
Geschichte leiteten „jene gewaltige historische
Strömung" ein, die das neunzehnte Jahr-

[Ende Spaltensatz]
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/403>, abgerufen am 26.05.2024.