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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Räder kommen müssen, Gelegenheit gegeben
würde, im Dienste des Vaterlandes ihr Brot,
ihre Heimat und eine Lebensstellung zu
finden, die eS ihnen ermöglichte, ans Jahre
und Jahrzehnte hinaus ihr Leben zu ordnen.
Wir haben zu radikal mit dem Gedanken des
Söldnerheeres gebrochen. Wenn man an das
Ehrgefühl des alten deutschen Landsknechtes
appelliert, dann erwacht dasselbe auch in
manchem von Bureaukraten zu Ehrverlust und
Zuchthaus verurteilten Schelm, der besser ist
als sein Ruf und in seinem Leichtsinn die
Folgen seines Handelns nicht ängstlich zuvor
erwogen hat. England, Holland, Frankreich
machen sich unsere Volkskraft schadenfroh und
lachend zunutze und wir lassen sie aus bureau¬
kratischer Engherzigkeit und ängstlicher Syste¬
matik unbenutzt zugrunde gehen. Sind solche
Leute dann alt geworden und unbrauchbar,
dann schleudert man sie wie eine ausgepreßte
Zitrone auf die Gasse. Invalid und mürbe
tauchen sie dann wieder in den deutschen
Gefängnissen und Zuchthäusern auf. Ir¬
gendeine Verpflichtung gegen diese modernen
Landsknechte übernehmen die fremden Staaten
natürlich nicht, wir aber könnten aus solchen
Elementen, die als Kolonialarmee von un¬
bezahlbarem Werte sind, Pioniere machen, die
unsere kolonialen Gebiete wirtschaftlich er¬
schließen, wenigstens einige Hilfe dabei leisten
würden. Mit einer solchen positiven sozialen
Tat würde die Lücke des Gesetzes am besten
geschlossen und dem Vaterlande und vielen
seiner armen Söhne aufs beste geholfen sein.

Heinrich Reuß
Aulturgeschichte

Reiseberichte und ihre Verwertung für
die Kulturgeschichte. Die Sehnsucht in die
Ferne und die Lust am Wandern steckt dem
Deutschen im Blute. Ursprünglich Wohl allen
Germanen eigen, hat sich dieser Charakterzug
als ein Erbteil von Geschlecht zu Geschlecht,
von Jahrhundert zu Jahrhundert im deutschen
Volke ganz besonders lebendig erhalten. Die
Form, in der er zutage trat, hat freilich oft
gewechselt. Völkerwanderung, Römer- und
Kreuzzüge, Kriegs- und Pilgerfahrten des
Mittelalters sind Massenausdruck dieser
Wanderleidenschaft, die Fahrten der mittel¬
alterlichen Vaganten, die wie Heuschrecken-

[Spaltenumbruch]

schwärme manche Gegenden überfielen und
mitunter zur wahren Landplage wurden, das
"auf die Walze gehen" der Handwerksburschen,
in späteren Jahrhunderten die Studienreisen
der jungen Adligen nach Paris oder den
italienischen Universitäten: alles das zeigt
uns nur verschiedene Seiten dieser Wander¬
freude, zeigt uns aber auch, daß die ver¬
schiedensten Kreise, gebildete wie ungebildete,
hohe wie niedere, daran teil hatten. Wie die
Motte nach dem Lichte, so zog es die ger¬
manischen Stämme nach der südlichen Sonne;
wie jene in die lockende Flamme stürzt und
sich die Flügel verbrennt, so wurde im Laufe
der Jahrhunderte der Boden der südlichen
Länder immer von neuem mit deutschem
Blute getränkt.

Wanderfreude und Abenteuerlust, ein
Ausfluß überschüssigen Kraftgefühls vielleicht,
waren neben wirtschaftlichen und sozialen
ursprünglich stark treibende Motive; Lern¬
begierde, BildungSdrcmg, Wunsch nach Er¬
weiterung des wirklichen und dadurch auch
des geistigen Horizonts treten in späteren,
rationalistischeren und bewußteren Jahr¬
hunderten als neue hinzu. So machte der
junge Adlige, der wohlhabende Kaufmanns¬
sohn des siebzehnten oder achtzehnten Jahr¬
hunderts, wenn er seine Studien oder Lehrzeit
in der Heimat beendet hatte, gern seine große
Tour ins Ausland. Das gehörte so zum guten
Ton. Meist unter Leitung eines MentorS
ging er nach Italien, Frankreich oder Eng¬
land, um fremde Sitten und Gebräuche,
andere Nationen und Lebensverhältnisse kennen
zu lernen. Oft recht ins einzelne gehende
oder auch durch ihre naive Offenherzigkeit und
Beurteilungsweise amüsante Reiseberichte, sei
es in der intimeren Form des Tagebuchs
oder in der mehr oder minder vertraulicher
Briefe, legten von dem Erlebten und Gesehenen
Zeugnis ab. Poetisch oder nachdenklich ver¬
anlagte Naturen verschmolzen dann Wohl
Erlebtes mit Erdichtetem, und so entstanden
Reiseerzählungen und -romane, die in manchen
Zeiten zu einer richtigen Mode ausarteten.
Diese literarischen Produkte durch verschiedene
Perioden hindurch zu verfolgen, Individuelles
von dem für die betreffende Periode Typischen
darin zu scheiden, den wechselnden, bald
sentimentalen oder tendenziösen, bald re-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Räder kommen müssen, Gelegenheit gegeben
würde, im Dienste des Vaterlandes ihr Brot,
ihre Heimat und eine Lebensstellung zu
finden, die eS ihnen ermöglichte, ans Jahre
und Jahrzehnte hinaus ihr Leben zu ordnen.
Wir haben zu radikal mit dem Gedanken des
Söldnerheeres gebrochen. Wenn man an das
Ehrgefühl des alten deutschen Landsknechtes
appelliert, dann erwacht dasselbe auch in
manchem von Bureaukraten zu Ehrverlust und
Zuchthaus verurteilten Schelm, der besser ist
als sein Ruf und in seinem Leichtsinn die
Folgen seines Handelns nicht ängstlich zuvor
erwogen hat. England, Holland, Frankreich
machen sich unsere Volkskraft schadenfroh und
lachend zunutze und wir lassen sie aus bureau¬
kratischer Engherzigkeit und ängstlicher Syste¬
matik unbenutzt zugrunde gehen. Sind solche
Leute dann alt geworden und unbrauchbar,
dann schleudert man sie wie eine ausgepreßte
Zitrone auf die Gasse. Invalid und mürbe
tauchen sie dann wieder in den deutschen
Gefängnissen und Zuchthäusern auf. Ir¬
gendeine Verpflichtung gegen diese modernen
Landsknechte übernehmen die fremden Staaten
natürlich nicht, wir aber könnten aus solchen
Elementen, die als Kolonialarmee von un¬
bezahlbarem Werte sind, Pioniere machen, die
unsere kolonialen Gebiete wirtschaftlich er¬
schließen, wenigstens einige Hilfe dabei leisten
würden. Mit einer solchen positiven sozialen
Tat würde die Lücke des Gesetzes am besten
geschlossen und dem Vaterlande und vielen
seiner armen Söhne aufs beste geholfen sein.

Heinrich Reuß
Aulturgeschichte

Reiseberichte und ihre Verwertung für
die Kulturgeschichte. Die Sehnsucht in die
Ferne und die Lust am Wandern steckt dem
Deutschen im Blute. Ursprünglich Wohl allen
Germanen eigen, hat sich dieser Charakterzug
als ein Erbteil von Geschlecht zu Geschlecht,
von Jahrhundert zu Jahrhundert im deutschen
Volke ganz besonders lebendig erhalten. Die
Form, in der er zutage trat, hat freilich oft
gewechselt. Völkerwanderung, Römer- und
Kreuzzüge, Kriegs- und Pilgerfahrten des
Mittelalters sind Massenausdruck dieser
Wanderleidenschaft, die Fahrten der mittel¬
alterlichen Vaganten, die wie Heuschrecken-

[Spaltenumbruch]

schwärme manche Gegenden überfielen und
mitunter zur wahren Landplage wurden, das
„auf die Walze gehen" der Handwerksburschen,
in späteren Jahrhunderten die Studienreisen
der jungen Adligen nach Paris oder den
italienischen Universitäten: alles das zeigt
uns nur verschiedene Seiten dieser Wander¬
freude, zeigt uns aber auch, daß die ver¬
schiedensten Kreise, gebildete wie ungebildete,
hohe wie niedere, daran teil hatten. Wie die
Motte nach dem Lichte, so zog es die ger¬
manischen Stämme nach der südlichen Sonne;
wie jene in die lockende Flamme stürzt und
sich die Flügel verbrennt, so wurde im Laufe
der Jahrhunderte der Boden der südlichen
Länder immer von neuem mit deutschem
Blute getränkt.

Wanderfreude und Abenteuerlust, ein
Ausfluß überschüssigen Kraftgefühls vielleicht,
waren neben wirtschaftlichen und sozialen
ursprünglich stark treibende Motive; Lern¬
begierde, BildungSdrcmg, Wunsch nach Er¬
weiterung des wirklichen und dadurch auch
des geistigen Horizonts treten in späteren,
rationalistischeren und bewußteren Jahr¬
hunderten als neue hinzu. So machte der
junge Adlige, der wohlhabende Kaufmanns¬
sohn des siebzehnten oder achtzehnten Jahr¬
hunderts, wenn er seine Studien oder Lehrzeit
in der Heimat beendet hatte, gern seine große
Tour ins Ausland. Das gehörte so zum guten
Ton. Meist unter Leitung eines MentorS
ging er nach Italien, Frankreich oder Eng¬
land, um fremde Sitten und Gebräuche,
andere Nationen und Lebensverhältnisse kennen
zu lernen. Oft recht ins einzelne gehende
oder auch durch ihre naive Offenherzigkeit und
Beurteilungsweise amüsante Reiseberichte, sei
es in der intimeren Form des Tagebuchs
oder in der mehr oder minder vertraulicher
Briefe, legten von dem Erlebten und Gesehenen
Zeugnis ab. Poetisch oder nachdenklich ver¬
anlagte Naturen verschmolzen dann Wohl
Erlebtes mit Erdichtetem, und so entstanden
Reiseerzählungen und -romane, die in manchen
Zeiten zu einer richtigen Mode ausarteten.
Diese literarischen Produkte durch verschiedene
Perioden hindurch zu verfolgen, Individuelles
von dem für die betreffende Periode Typischen
darin zu scheiden, den wechselnden, bald
sentimentalen oder tendenziösen, bald re-

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[0459] Maßgebliches und Unmaßgebliches Räder kommen müssen, Gelegenheit gegeben würde, im Dienste des Vaterlandes ihr Brot, ihre Heimat und eine Lebensstellung zu finden, die eS ihnen ermöglichte, ans Jahre und Jahrzehnte hinaus ihr Leben zu ordnen. Wir haben zu radikal mit dem Gedanken des Söldnerheeres gebrochen. Wenn man an das Ehrgefühl des alten deutschen Landsknechtes appelliert, dann erwacht dasselbe auch in manchem von Bureaukraten zu Ehrverlust und Zuchthaus verurteilten Schelm, der besser ist als sein Ruf und in seinem Leichtsinn die Folgen seines Handelns nicht ängstlich zuvor erwogen hat. England, Holland, Frankreich machen sich unsere Volkskraft schadenfroh und lachend zunutze und wir lassen sie aus bureau¬ kratischer Engherzigkeit und ängstlicher Syste¬ matik unbenutzt zugrunde gehen. Sind solche Leute dann alt geworden und unbrauchbar, dann schleudert man sie wie eine ausgepreßte Zitrone auf die Gasse. Invalid und mürbe tauchen sie dann wieder in den deutschen Gefängnissen und Zuchthäusern auf. Ir¬ gendeine Verpflichtung gegen diese modernen Landsknechte übernehmen die fremden Staaten natürlich nicht, wir aber könnten aus solchen Elementen, die als Kolonialarmee von un¬ bezahlbarem Werte sind, Pioniere machen, die unsere kolonialen Gebiete wirtschaftlich er¬ schließen, wenigstens einige Hilfe dabei leisten würden. Mit einer solchen positiven sozialen Tat würde die Lücke des Gesetzes am besten geschlossen und dem Vaterlande und vielen seiner armen Söhne aufs beste geholfen sein. Heinrich Reuß Aulturgeschichte Reiseberichte und ihre Verwertung für die Kulturgeschichte. Die Sehnsucht in die Ferne und die Lust am Wandern steckt dem Deutschen im Blute. Ursprünglich Wohl allen Germanen eigen, hat sich dieser Charakterzug als ein Erbteil von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert im deutschen Volke ganz besonders lebendig erhalten. Die Form, in der er zutage trat, hat freilich oft gewechselt. Völkerwanderung, Römer- und Kreuzzüge, Kriegs- und Pilgerfahrten des Mittelalters sind Massenausdruck dieser Wanderleidenschaft, die Fahrten der mittel¬ alterlichen Vaganten, die wie Heuschrecken- schwärme manche Gegenden überfielen und mitunter zur wahren Landplage wurden, das „auf die Walze gehen" der Handwerksburschen, in späteren Jahrhunderten die Studienreisen der jungen Adligen nach Paris oder den italienischen Universitäten: alles das zeigt uns nur verschiedene Seiten dieser Wander¬ freude, zeigt uns aber auch, daß die ver¬ schiedensten Kreise, gebildete wie ungebildete, hohe wie niedere, daran teil hatten. Wie die Motte nach dem Lichte, so zog es die ger¬ manischen Stämme nach der südlichen Sonne; wie jene in die lockende Flamme stürzt und sich die Flügel verbrennt, so wurde im Laufe der Jahrhunderte der Boden der südlichen Länder immer von neuem mit deutschem Blute getränkt. Wanderfreude und Abenteuerlust, ein Ausfluß überschüssigen Kraftgefühls vielleicht, waren neben wirtschaftlichen und sozialen ursprünglich stark treibende Motive; Lern¬ begierde, BildungSdrcmg, Wunsch nach Er¬ weiterung des wirklichen und dadurch auch des geistigen Horizonts treten in späteren, rationalistischeren und bewußteren Jahr¬ hunderten als neue hinzu. So machte der junge Adlige, der wohlhabende Kaufmanns¬ sohn des siebzehnten oder achtzehnten Jahr¬ hunderts, wenn er seine Studien oder Lehrzeit in der Heimat beendet hatte, gern seine große Tour ins Ausland. Das gehörte so zum guten Ton. Meist unter Leitung eines MentorS ging er nach Italien, Frankreich oder Eng¬ land, um fremde Sitten und Gebräuche, andere Nationen und Lebensverhältnisse kennen zu lernen. Oft recht ins einzelne gehende oder auch durch ihre naive Offenherzigkeit und Beurteilungsweise amüsante Reiseberichte, sei es in der intimeren Form des Tagebuchs oder in der mehr oder minder vertraulicher Briefe, legten von dem Erlebten und Gesehenen Zeugnis ab. Poetisch oder nachdenklich ver¬ anlagte Naturen verschmolzen dann Wohl Erlebtes mit Erdichtetem, und so entstanden Reiseerzählungen und -romane, die in manchen Zeiten zu einer richtigen Mode ausarteten. Diese literarischen Produkte durch verschiedene Perioden hindurch zu verfolgen, Individuelles von dem für die betreffende Periode Typischen darin zu scheiden, den wechselnden, bald sentimentalen oder tendenziösen, bald re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/459>, abgerufen am 26.05.2024.