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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Venezianische Nacht
E Johannes Je gerlehn er rzählung von

war zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein Freund, ein
! junger Privatdozent für italienische Sprache und Literatur, saß
neben mir in dem Rauchzimmer des kleinen Hotels auf der
Engstlenalp. Wir waren die einzigen Skifahrer, denn die dreißig
Engländer, die ihre Ankunft angesagt hatten, waren des schlechten
Wetters wegen noch nicht erschienen, und so ließen wir die warmen Föhntage
ohne Glimpf und Schimpf verbrausen, hielten sie uns doch die lästigen Fremden
vom Halse.

Wir saßen oder lagen vielmehr mit langgestreckten Beinen in bequemen
Klappstühlen. Eine große Skitour auf einen der gewaltigen Felsköpfe der
Umgebung hatte uns bis in die Nacht zu schaffen gegeben. Zum Lesen war es
zu dunkel, da die Lampe rußte und flackerte. Der Wirt hing zwei Papierlaternen
an die Decke, meinte lächelnd, wir müßten nun mit venezianischer Beleuchtung
vorlieb nehmen und trug die Lampe mit dem schadhaften Brenner hinaus.
Nun war es noch dämmeriger im Saal. Mein Freund bestellte eine große
Flasche Glühwein, und bald versanken wir in stilles Träumen und lauschten
dem schrillen Pfeifen des Winoes, der den aufgewirbelten Schneestaub an die
Hauswart schmiß und im ersten Stock einen Laden hin und her warf. Nach
langer Pause erhob der Doktor den schönen Lockenkopf zu den Papierlichtern,
fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte: "Dieses elende Geflimmer soll eine
venezianische Nacht vortäuschen. Haben Sie schon so ein Nachtfest mitgemacht?"

"O ja, schon mehrere," gab ich fröhlich zurück. "Am ersten August ist doch
jeder Biergarten venezianisch beleuchtet. Und als mein Schwager Hochzeit hielt --"

"Ich meine eine wirkliche venezianische Nacht in Venedig."

"Nein, das nicht. Die Lagunenstadt kenne ich nicht."

"Sie müssen einmal Hinreisen, im Frühling oder besser noch im Sommer.
Vor einem Jahre habe ich während der größten Hitze sechs herrliche Wochen
dort zugebracht -- bis auf den Schluß, da brannte mir der Boden unter den
Füßen und ich dampfte schleunig ab."

"Herrgott, so reden Sie doch von Venedig. Lesen kann man bei diesem
Halbdunkel doch nicht."




Venezianische Nacht
E Johannes Je gerlehn er rzählung von

war zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein Freund, ein
! junger Privatdozent für italienische Sprache und Literatur, saß
neben mir in dem Rauchzimmer des kleinen Hotels auf der
Engstlenalp. Wir waren die einzigen Skifahrer, denn die dreißig
Engländer, die ihre Ankunft angesagt hatten, waren des schlechten
Wetters wegen noch nicht erschienen, und so ließen wir die warmen Föhntage
ohne Glimpf und Schimpf verbrausen, hielten sie uns doch die lästigen Fremden
vom Halse.

Wir saßen oder lagen vielmehr mit langgestreckten Beinen in bequemen
Klappstühlen. Eine große Skitour auf einen der gewaltigen Felsköpfe der
Umgebung hatte uns bis in die Nacht zu schaffen gegeben. Zum Lesen war es
zu dunkel, da die Lampe rußte und flackerte. Der Wirt hing zwei Papierlaternen
an die Decke, meinte lächelnd, wir müßten nun mit venezianischer Beleuchtung
vorlieb nehmen und trug die Lampe mit dem schadhaften Brenner hinaus.
Nun war es noch dämmeriger im Saal. Mein Freund bestellte eine große
Flasche Glühwein, und bald versanken wir in stilles Träumen und lauschten
dem schrillen Pfeifen des Winoes, der den aufgewirbelten Schneestaub an die
Hauswart schmiß und im ersten Stock einen Laden hin und her warf. Nach
langer Pause erhob der Doktor den schönen Lockenkopf zu den Papierlichtern,
fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte: „Dieses elende Geflimmer soll eine
venezianische Nacht vortäuschen. Haben Sie schon so ein Nachtfest mitgemacht?"

„O ja, schon mehrere," gab ich fröhlich zurück. „Am ersten August ist doch
jeder Biergarten venezianisch beleuchtet. Und als mein Schwager Hochzeit hielt —"

„Ich meine eine wirkliche venezianische Nacht in Venedig."

„Nein, das nicht. Die Lagunenstadt kenne ich nicht."

„Sie müssen einmal Hinreisen, im Frühling oder besser noch im Sommer.
Vor einem Jahre habe ich während der größten Hitze sechs herrliche Wochen
dort zugebracht — bis auf den Schluß, da brannte mir der Boden unter den
Füßen und ich dampfte schleunig ab."

„Herrgott, so reden Sie doch von Venedig. Lesen kann man bei diesem
Halbdunkel doch nicht."


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[0540] [Abbildung] Venezianische Nacht E Johannes Je gerlehn er rzählung von war zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein Freund, ein ! junger Privatdozent für italienische Sprache und Literatur, saß neben mir in dem Rauchzimmer des kleinen Hotels auf der Engstlenalp. Wir waren die einzigen Skifahrer, denn die dreißig Engländer, die ihre Ankunft angesagt hatten, waren des schlechten Wetters wegen noch nicht erschienen, und so ließen wir die warmen Föhntage ohne Glimpf und Schimpf verbrausen, hielten sie uns doch die lästigen Fremden vom Halse. Wir saßen oder lagen vielmehr mit langgestreckten Beinen in bequemen Klappstühlen. Eine große Skitour auf einen der gewaltigen Felsköpfe der Umgebung hatte uns bis in die Nacht zu schaffen gegeben. Zum Lesen war es zu dunkel, da die Lampe rußte und flackerte. Der Wirt hing zwei Papierlaternen an die Decke, meinte lächelnd, wir müßten nun mit venezianischer Beleuchtung vorlieb nehmen und trug die Lampe mit dem schadhaften Brenner hinaus. Nun war es noch dämmeriger im Saal. Mein Freund bestellte eine große Flasche Glühwein, und bald versanken wir in stilles Träumen und lauschten dem schrillen Pfeifen des Winoes, der den aufgewirbelten Schneestaub an die Hauswart schmiß und im ersten Stock einen Laden hin und her warf. Nach langer Pause erhob der Doktor den schönen Lockenkopf zu den Papierlichtern, fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte: „Dieses elende Geflimmer soll eine venezianische Nacht vortäuschen. Haben Sie schon so ein Nachtfest mitgemacht?" „O ja, schon mehrere," gab ich fröhlich zurück. „Am ersten August ist doch jeder Biergarten venezianisch beleuchtet. Und als mein Schwager Hochzeit hielt —" „Ich meine eine wirkliche venezianische Nacht in Venedig." „Nein, das nicht. Die Lagunenstadt kenne ich nicht." „Sie müssen einmal Hinreisen, im Frühling oder besser noch im Sommer. Vor einem Jahre habe ich während der größten Hitze sechs herrliche Wochen dort zugebracht — bis auf den Schluß, da brannte mir der Boden unter den Füßen und ich dampfte schleunig ab." „Herrgott, so reden Sie doch von Venedig. Lesen kann man bei diesem Halbdunkel doch nicht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/540>, abgerufen am 26.05.2024.